Ob in Clubs, Labels, im Produktionsstudio oder natürlich am DJ-Pult: FLINTA haben die elektronische Tanzmusik von Anfang an maßgeblich mitgeprägt. Trotzdem scheint der Kampf um ihre Sichtbarkeit und Repräsentation gerade in diesem Bereich besonders zäh und langwierig. Zum Glück gibt es mutige FLINTA, die die deutsche Szene aufmischen und immer wieder klar machen: Der Dancefloor ist für alle da.
Das Patriarchat remixen
DJ-Mix: Mutige FLINTA in der elektronischen Musik
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Magazin 01 / 2023
Online Veröffentlicht
5 April 2024
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Man kann keinen DJ-Mix der deutschen Technoszene beginnen ohne Ellen Allien. Die Berlinerin war seit Stunde Null am Start und begann Ende der 1980er im Fischlabor, der Kneipe des späteren Tresor-Gründers Dimitri Hegemann, diesen neuartigen elektronischen Sound aufzulegen. Das brachte Ellen den Spitznamen „Allien“ ein. Techno trat an als der Sound der Zukunft, die wiederkehrende Weltraumthematik in zahllosen Tracks ist nur ein Erbe der afrofuturistischen Wurzeln dieser Musik in Detroit. Glücklicherweise landete das Techno-UFO Anfang der 1990er in Berlin und Ellen Allien stieg ein. „Hello Planet Earth“ hauch-singt sie drei Jahrzehnte später über einem sphärischen Beat zum Cyborg verfremdet auf dem Opener von AurAA – ihrem mittlerweile zehnten Studioalbum auf ihrem eigenen Label BPitch Control.
BPitch Control war während der Minimal-Ära der 2000er eines der stilprägenden Berliner Labels. Auf einer BPitch-Labelnacht im Club Weekend verliebte sich damals eine Teenagerin in den Sound, den sie später mit ihrem eigenen Labelkollektiv Live From Earth maßgeblich mitprägen sollte: DJ Gigola. Dass Ellen Alliens hochenergetische Sets, die sich nicht um Genre-Grenzen scheren, DJ Gigola geprägt haben, ist bis heute nicht zu überhören: Auf ihrem Debütalbum Fluid Meditations vereinte sie ASMR mit Ambient Techno und New-Age-Meditation. Auf In The Mood hallt der minimalistische Geist der Nullerjahre nach, wenn auch um einige BPM beschleunigt. Die hypnotische Wirkung des aufs Wesentliche reduzierten Beats steht bei DJ Gigola immer im Zentrum. Und natürlich: der Spaß am Spiel.
Auch die aus Istanbul stammende Wahlberlinerin Nene H veröffentlichte sowohl auf BPitch Control als auch auf Live From Earth, ehe sie ihren eigenen Imprint UMAY startete. Darauf möchte sie queeren BIPoCs und Künstler:innen aus Nordafrika und Süd- und Westasien eine Plattform bieten. Der Auftakt könnte mit der Münchnerin BASHKKA kaum besser gewählt sein. Ihr Name – ein Wortspiel mit dem türkischen Ausdruck für „anders“ – ist Programm: BASHKKA mixt kurdische Vocal-Samples mit bouncendem Chicago House, feiert ihre türkischen Wurzeln ebenso wie ihre Wahlfamilie in der Trans-Community der New Yorker Ballroom Szene. Zurecht ist die Blitz-Club-Resident und Berghain-Regular eine der gefeiertsten Newcomerinnen, die jenseits von Labels frischen Wind in die Szene fächert.
Speaking of frischer Wind: Narciss ist wirklich einzigartig in der Szene. Und das liegt nicht allein an den blauen Haaren und den sich konsequent binären Kategorien entziehenden Looks. Narciss steht stellvertretend für eine neue Generation von DJs und Produzent:innen, die unironisch Nerd und Pop-Queen gleichzeitig sein können. In Narciss’ Sets stehen Pokémon-Edits und ein verlässliches Feuerwerk hochgepitchter 2000er-Remixe neben unbekannten Underground-Perlen. Die Produktionen vereinen aufgepeitschte House-Grooves mit herzzerreißenden Pop-Vocals und genau der richtigen Prise Rave-Nostalgie. Wer Katharsis auf dem Dancefloor sucht: in „Make it Thru“ ist diese in Reinform zu finden.
Kaum ein Underground-Duo wurde im letzten Jahr vom Feuilleton so sehr abgefeiert wie die Neuköllner:innen Victoria Vassiliki Daldas und Theo Zeitner aka Brutalismus 3000. Bei Tracktiteln wie „Satan Was a Babyboomer“ oder „Ich hab meine Tage im Berghain“ horcht man zwangsläufig auf. Der brachiale Sound tut sein Übriges: Irgendwo zwischen Blümchen und DAF traf ULTRAKUNST, das Debütalbum von Brutalismus 3000, zufällig mit dem Vorschlaghammer den Zeitgeist-Sweetspot. „SAFE SPACE“ dekonstruiert den Mythos des Schutzraums, den Clubs sich gerne auf die Fahnen schreiben. Brutalismus 3000 sorgen dafür, dass es sich in der vermeintlich so progressiven Technos-Bubble niemand allzu gemütlich macht und bringen eine Punk-Attitüde mit, die dort lange gefehlt hat.
Die deutsche Dance-Music-Szene – besonders in Berlin – lebt von Expats, die dem Freiheitsversprechen der ehemaligen Mauerstadt folgen und ihr dann ihren eigenen Stempel aufdrücken. In jüngster Zeit zeigt die Neuseeländerin DJ Fuckoff, dass sie gekommen ist, um zu bleiben. Oder zumindest kurz davor ist – wie sie mit Feature-Sister Yazzus auf „the cum track“ sprechsingt. DJ Fuckoff eignet sich die expliziten Vocals an, die Ghettotech à la DJ Assault ausmachen, und deutet das traditionell vor Testosteron triefende Genre mit ausgestrecktem Mittelfinger feministisch um. Mit Songtitel wie „DEATH BY PUSSY“ oder „Pornstar“ macht DJ Fuckoff ihrem Namen alle Ehre und gilt als eine der zentralen Figuren der gerade aufbrandenden Slut-Techno-Welle.
Teil der DJ-Fuckoff-Posse ist die Hamburgerin DJ Mell G. Auf ihrem Label JUICY GANG RECORDS erschien auch die Kollabo-EP JUICY CLASS. DJ Mell G wurde dank eines grandiosen HÖR-Sets während der Pandemie zum Internet-Hype, ohne je eine echte Crowd bespielt zu haben. 2022 wurde sie vom Szenemagazin GROOVE zur Newcomerin des Jahres gewählt. Dass der Fame aber auch seine Schattenseiten hat, gerade wenn man mit mentalen ISSUES zu kämpfen hat, thematisiert DJ Mell auf ihrem gleichnamigen Debütalbum. Darauf geht sie offen mit ihrer Borderline-Persönlichkeitsstörung um. Sie übersetzt die damit einhergehenden Glitches im Gehirn in düsteren Electro und verwandelt den Dancefloor in einen dystopischen Ort, der manchmal ebenso befreiend wie angsteinflößend sein kann.
„The human spirit is a component of human philosophy, psychology, art and knowledge. The spiritual and mental part of humanity. An anonymous force.“ So holt uns Sedef Adasï in ihre psychedelische Fantasy Zone. Die gebürtige Augsburgerin ist Resident im Münchner Blitz Club und hat mit ihrer Partyreihe HAMAM Nights schon das Who's who der Clubwelt in den Augsburger City Club geholt. Mittlerweile hostet sie diese Reihe im Berghain, wo sie seit 2022 Resident ist. Dort spielt sie bisweilen achtstündige Marathon-Closing-Sets, in denen sie verspulten Acid mit euphorischem Techno, House Bangers und Electro verwebt. Wie man dabei so lässig sein kann? Keine Ahnung. Sedef Adasï ist einfach eine (not so) anonymous force.
Auf ihre HAMAM Nights hat Sedef vor Jahren auch Perel eingeladen. Die gebürtige Sächsin, die heute zwischen Berlin und New York pendelt, schwebt nicht nur physisch zwischen den Welten. Auch in ihrer Musik, die zwischen Italo, Wave Pop, EBM und Trance changiert, geht es häufig um Metaphysisches, Spiritualität und das Hyperreale. Auf Jesus Was an Alien zeigt Perel nicht nur mit der grandiosen Coverart, dass Esoterik und Humor sich nicht ausschließen müssen. „Kill the System“ ist eine feministische Hymne gegen die Männerbünde, die leider auch innerhalb der Clubszene immer noch viel zu viel Einfluss haben: „Im Zentrum der Macht erklingt ein Lied“, singt Perel, die schon oft mit Hildegard Knef verglichen wurde. „Es verkündet das Ende der Patriarchie.“ Wir manifestieren es zumindest!
Hyperreal bleibt es auch bei Helena Hauff. Was genau sie mit ihrem hyperintelligenten, genetisch angereicherten Cyborg vorhat, verbalisiert sie auf dem Track zwar nicht. Ein bisschen klingt es aber so, als würde dieser selbst an den analogen Drum Machines und Synthesizern rumschrauben, mit denen Hauff ihren Sound konsequent oldschool kreiert. Konsequent oldschool ist auch ihre vollständige Abwesenheit auf Social Media. Dass Hauff sich allein mit ihrem Signature-Sound aus Electro, EBM und Acid auch ohne Selfies und Thank-you-Posts eine stabile Weltkarriere aufbauen konnte, ist ebenso tröstlich wie Punk. Den trägt Hauff, die aus dem Umfeld des Hamburger Golden Pudel Club stammt, ohnehin hörbar in ihrer DNA.
Soundmäßig verbleiben wir noch kurz in düster-kühlen 1980er-Jahre-Gefilden. Mit ihren Labels Correspondant und Dischi Autunno hat die Französin Jennifer Cardini irgendwo zwischen Electro, Dark Wave, Italo Disco und EBM einen ganz eigenen Sound geprägt, um den sich in Berlin eine treue Fangemeinde scharrt. Cardini ist eine großartige Remixerin, wie sie hier gemeinsam mit ihrem Labelkollegen Damon Jee beweist. „When the Party Ends“ stammt von der Debüt-EP der britischen Musiker:in Bimini, die durch ihre Teilnahme bei RuPaul's Drag Race bekannt wurde. Ein Remix-Match made in Heaven – denn die Sichtbarkeit der LGBTQI+-Community steht bei Jennifer Cardini, die in Paris einst im Lesben-Club Pulp ihre Karriere begonnen hat, immer schon an erster Stelle.
Wenn es ein Traumpaar der deutschen House-Szene gibt, dann sind es Steffi und Virginia. Die beiden Resident-DJs der Berghain / Panorama Bar lassen sich nie auf „den einen“ Sound festlegen. In ihren hybriden Sets, bei denen Sängerin Virginia gerne auch selbst zum Mikrofon greift, brechen sie mit dem, was ein klassisches DJ-Set heute sein darf. „Yours“ stammt ursprünglich von Steffis Debütalbum Yours & Mine, das nun als Re-Release auf ihrem neuen Label-Imprint DESTEFSTER erscheint. „I always want you by my side“, säuselt Vocal-House-Queen Virginia über einem reduzierten Groove. Steffi und Virginia side by side – das wünschen sich wahrscheinlich alle, die ein Herz für House haben.
Wer House sagt, muss auch CINTHIE sagen. Seit über 20 Jahren hält sie als DJ, Produzentin und Labelchefin von 803 Crystal Grooves dem schwarzen Vinyl-Gold die Stange, ohne je den Anschluss an das Hier und Jetzt zu verlieren. Vor ein paar Jahre eröffnete sie mit Elevate sogar einen eigenen Plattenladen in Berlin-Friedrichshain – ein Wagnis, das zum Erfolg wurde. Klar, auf eine so versierte Selektorin wie CINTHIE ist Verlass. Ihre Geschmackssicherheit stellt CINTHIE zuletzt mit ihrer vielbeachteten DJ-Kicks-Reihe unter Beweis. Der Track „Shuffle and Swing“ tut genau das, was er verspricht. Und manchmal braucht man auf dem Dancefloor auch einfach nicht mehr als das.
Auf CINTHIES DJ-Kicks konnte man neben Legenden wie dem Detroiter House-DJ Terrence Parker auch einige Neuheiten entdecken – unter anderem die Kölner DJ und Produzentin Sandilé. Als Teil der I’m-In-Love-Crew lässt sich Sandilé bei ihren Sets und Produktionen neben House und Techno auch von Hip Hop, Dubstep, Soul und Jungle beeinflussen – so wie auf „Sista from the Block“. Die gebrochenen Beats beschwören im Kontrast zu den sphärischen Flächen 1990er-UK-Rave-Nostalgie herauf. Doch Sandilé liefert nicht nur Feel-Good-Vibes: Auf „Do Your Job“ sampelte sie die Black-Lives-Matter-Aktivistin Tamika Mallory und nutzte so den Dancefloor auch als Ort, um politischen Protest hörbar zu machen.
„Berlin’s most hated“, steht als Überschrift von Paramidas Biografie auf Resident Advisor. Vielleicht, weil sich Paramida ihre DJ-Sporen im Offenbacher Club Robert Johnson verdient hat und sie damit auf die ewig schwelende Fehde zwischen Frankfurt und Berlin anspielt? Zu hassen gibt es an ihrem Sound zwischen Proto House, Trance, hochtourigem Techno und italienischem Dream House nämlich eigentlich so gar nichts. Stattdessen nur Liebe für ihr Label und die gleichnamige Partyreihe Love on the Rocks, mit der sich Paramida einen festen Platz in der Panorama Bar erarbeitet hat. Auf diesem Remix von „Dream Ritual“ holt sie sich zudem noch das House-Dreamteam Eris Drew und Octo Octa für einen „Alchemical Sister Dub“ ins Boot. Mehr Boss-Bitch-Energy geht einfach nicht mehr. Lieben wir.
Von Köln über Offenbach und Berlin geht es zurück ins Rheinland, genauer gesagt nach Düsseldorf. Hier wäre clubtechnisch mittlerweile leider ziemliches Ödland angesagt – gäbe es den Salon des Amateurs nicht. Im Salon werden kauzige Verschrobenheiten gefeiert und verkopfte Kunstkonzepte gegen den Takt über den Dancefloor gerollt. Postergirl dieser arty Weirdcore-Szene ist DJ und Produzentin Lena Willikens. Ihre Produktionen klingen eher wie Soundtracks zu abstrakten Kurzfilmen, spooky und comichaft zugleich. Bei Lena-Willikens-Sets kann wirklich so gut wie alles passieren. Das Einzige, worauf man sich verlassen kann: Hits wird man hier keine zu hören bekommen. Das Publikum darf ja auch ruhig mal ein bisschen herausgefordert werden.
Hits hat Miss Kittin hingegen schon einige geliefert. Gemeinsam mit The Hacker hat sie seit Mitte der 1990er Stücke unter anderem auf DJ Hells International Deejay Gigolo Records rausgebracht – man denke an „Leather Forever“ und natürlich an das ikonische „Frank Sinatra“. Miss Kittin, das ist betont larmoyanter, englisch-französischer Sprechgesang über 80s-infizierten Electro-Beats. Diesem Konzept bleiben Miss Kittin und The Hacker auch auf ihrem Third Album treu. „Ostbahnhof“ beschreibt den sonntäglichen Trip zum wahrscheinlich berühmtesten Heizkraftwerk der Welt. In vorauseilender Nostalgie wird das, was heute noch jedes Wochenende passiert, vorsorglich schon mal in all seiner glamourösen Absurdität archiviert. „Time has already stopped. Destination Ostbahnhof.“
Noch eine wichtige Expat, die Berlin nie wieder verlassen wollte, ist die Londonerin mit sri lankischen Wurzeln Perera Elsewhere. Sie kam Anfang der Nullerjahre nach Berlin und brachte all die britischen Einflüsse mit, die es in Berlin zu dieser Zeit kaum gab: Jamaikanischen Dub, Trip Hop, Jungle, Drum 'n' Bass. Mit dem Trio Jahcoozi vermischte sie Ragga, Hip Hop und Electronica zu einem eigenständigen Sound und markierte fortan ihre Stellung abseits des straighten Four-to-the-Floor-Beats. Umso erstaunlicher, dass das konzeptuelle „HKW“ von Perera Elsewheres letztem Album HOME fast als Techno-Track durchgehen könnte. HOME ist für Perera Elsewhere kein fester Ort, weder musikalisch noch regional, sondern fluide, sich dauerhaft in Bewegung befindend. So wie ihre Musik.
House Music ohne Gnade – so beschreibt rRoxymore ihre musikalische Philosophie. Keine Gnade für die Missstände, die in der elektronischen Tanzmusik immer sichtbarer werden, trifft es vielleicht eher: Der verfremdete, seltsam verschleppte Track „We Can Do“ ist nur noch von der Knochenstruktur her und in Einzelteilen als Housetrack erkennbar. rRoxymore drückt ihm ihren ganz eigenen Stempel auf. Der Track ist als Teil des Releases Synergy auf Black Artist Data Base erschienen; einem Label, das ursprünglich mal als Google-Spreadsheet begann, um auf die vielen talentierten BIPoC-Artists aufmerksam zu machen, die oft sehr viel weniger gebucht werden als ihre weißen Kolleg:innen. rRoxymore ist eine von ihnen, die diese Art der Aufmerksamkeit mehr als verdient hat. Keine Gnade für Ungerechtigkeit.
Den perfekten Ausklang für diesen wilden Ritt durch Genres, Genderidentitäten und Generationen liefert JakoJako. Sie ist ein Ausnahmetalent in Sachen Modular-Synthese. Ihre Produktionen verdanken wir vor allem einigen unspektakulären Nachtschichten, die die ausgebildete Pflegekraft damit verbrachte, Fachbücher über elektronische Musik, Synthesizer, Klangsynthese und Sounddesign zu wälzen. Patient:innen sind dabei natürlich keine zu Schaden gekommen! Umgekehrt fließt ihr medizinisches Wissen stattdessen heute geradezu symbiotisch zurück in ihre Musik: Die „Amygdala“ ist der Teil des Gehirns, der für die Entstehung von Emotionen zuständig ist. Freudentaumel, Entspannung, Zufriedenheit, Ruhe, Seligkeit – alles steht hier zur freien Auswahl.