Popmusik als Inspiration: BALBINA

„It’s bigger than religion, hip hop.“

Polaroid: Balbina

Text von

Polaroid von

Print Ausgabe

Magazin 01 / 2023

Online Veröffentlicht

03 September 2024

Für die Künstlerin Balbina bilden Wort, Bild und Ton eine Einheit. Die in Warschau geborene Berlinerin übersetzt ihre Realitäten in audiovisuelle Welten gesungener Poesie. Inspiriert wurde sie dazu unter anderem durch eine transformative Konzerterfahrung.

Balbina

03.08.2011, Tempodrom Berlin: Die hölzernen Sitze des Tempodroms waren unbequem, die Luft dicht. Als die Show begann, standen die meisten. Ich weiß es noch genau. Ich war ohne Begleitung dort. Noch heute kann man in einer alten taz-Ausgabe nachlesen, dass Erykah Badu einen weiten Poncho trug, auf dem das Zitat von Gil Scott-Heron prangte: „The revolution will not be televised“.

Was Badu an diesem Abend, eingehüllt in diese Worte, besang, löste eine Revolution in meinem Gehirn aus: Tausende Menschen, Badu und ich sangen: „It’s bigger than religion, hip hop.“ Wie ein Mantra wiederholte sich der Satz immer wieder, hängt mir bis heute im Ohr. Tränen liefen mir übers Gesicht. Mit roter Nase schämte ich mich, alleine unter Leuten zu heulen, obwohl es genau in dem Moment retrospektiv betrachtet völlig okay war. Wenige Male im Leben hatte ich das Gefühl, in einem öffentlichen Safer Space zu sein. Das hier war einer.

Die Karte für das Konzert kaufte ich mir, weil ich Badu gerne hörte. Ihre Worte gaben mir Inspiration, die musikalische Interpretation und Inszenierung war spannend und unerreichbar. Ich kam als klassischer Fan zum Konzert. Doch währenddessen verschmolz das Publikum mit mir und ihr zu einem Gefühl von Hoffnung. Die Zeit verlangsamte sich, während ich bemerkte, dass das Wort „Religion“, welches in mir stets Zweifel und Panik auslöste, plötzlich entkräftet wurde. Ein Käfig aus Zwängen, Beurteilungen, patriarchalen Ritualen brach vor meinen Augen, als ich verstand, dass dieses Gefühl, welches im Raum vibrierte, viel größer war als meine Furcht. Mein verinnerlichtes katholisches Regime, das mich jahrelang begleitete, unterdrückte, mir einredete, nichts wert zu sein, hatte seine Macht über mich verloren. Ich war keine Frau mehr, kein Mann. Geld war bedeutungsloses Papier und meine Stimme die Nahrung meiner Zukunft. Ich weinte, als hätte ich was verloren. Zum Glück hatte ich etwas verloren! Das Korsett, das meine Identität einengte.

Bild: Erykah Badu

Bild: Eryka Badu

Sie war größer als Religion, diese Perspektive auf Freiheit, welche mich erfasste, alle Ränge miteinander verknüpfte bis hin zur Bühne, zu ihr: Erykah Badu. Sie war größer als Schmerz, Hass, Lügen, Sünden, Urteile und Schuld. Hip Hop war ihr Beweis, dass Musik mich mit dem Klang ihrer Stimme heilte. Wer singt, hat keine Angst, bewies nicht nur der Neurobiologe Gerald Hüther, sondern auch diese Show. Wenn das Gehirn es nicht schafft, beim Singen gleichzeitig Angst zu haben, dann lasst uns diese Angstfreiheit für Zuversicht nutzen! Wo sonst kann man Ideen von Liebe, Ethik, Solidarität und Vernunft besser einbetten als in Musik? Wo sonst kann man gesellschaftliche Transformation besser antreiben als auf Konzerten? Popmusik ist ein Ort, an dem wir Menschen daran erinnern können, was Menschsein überhaupt bedeutet.

Als ich auf dem Nachhauseweg durch den Kreuzberger Spätsommerabend in Richtung U-Bahn-Station Möckernbrücke spazierte, bemerkte ich: Das Korsett schien mich langsam wieder zu fesseln, schnürte mich ein, Druck machte sich breit. So leicht war das Mindset eventuell doch nicht zu justieren. Aber der Anfang war gemacht. Ich war nicht frei, aber ein bisschen freier.

12 Jahre später möchte ich diesen Text mit Erykah Badus Worten aus „The Healer“ beenden: „Reboot, refresh, restart. Fresh page, new day, OGs, new key.“

Bildnachweis

ZUMA Press, Inc./Alamy Stock Photo