Gute Pop-Momente enthalten das Versprechen einer besseren Welt – besonders für diejenigen, die nicht Teil der Mehrheitsgesellschaft sind. Gleichzeitig bleibt Pop eine durchkuratierte Inszenierung, bei der Widersprüche überpinselt werden, um die Illusion nicht zu zerstören. Alles also nur langweilige Dystopie? Mitnichten! Denn Spaß kann auch Widerstand sein. Und ein Jogginganzug kann manchmal die Welt bedeuten.
Star-Spangled Banner in Ballonseide
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Magazin 01 / 2023
online veröffentlicht
16 Mai 2024
Lieblingsmusik in eine Reihenfolge zu bringen, ist ungefähr so, als wollte man ein Ranking der eigenen Erinnerungen erstellen: unmöglich. Wie soll man etwas sortieren, bei dem Gefühle, Gedanken und Menschen zusammenwirken? Ich kann also nicht sagen, auf welchem Platz Whitney Houstons Auftritt vom 27. Januar 1991 liegt. Aber ich weiß, dass er zu meinen liebsten Pop-Momenten gehört.
Ich war damals elf Jahre alt. Vor der Schule lief im Frühstücksfernsehen eine Zusammenfassung des 25. Super-Bowl-Finales. Wie immer kam zunächst die US-amerikanische Nationalhymne „The Star-Spangled Banner“, diesmal gesungen von Whitney Houston. In Kuwait kämpften zur gleichen Zeit US-Soldaten gegen das Regime von Saddam Hussein. Krieg, Patriotismus, Pathos und ein Weltstar – eine Studioaufnahme von Whitney Houstons Version stieg später bis auf Platz 6 in den US-amerikanischen Charts. Zum ersten und einzigen Mal würde es eine Nationalhymne in die Billboard Hot 100 schaffen. Aber Hymne und Weltgeschehen waren mir egal, als ich Whitney Houston damals im Fernsehen sah. Für mich zählte vor allem der weiße Trainingsanzug aus Ballonseide, den sie bei ihrem Auftritt trug.
Ein paar Jahre zuvor war das raschelnde, schimmernde Material noch cool. Gefühlt hatten in den 1980ern alle Hosen und Jacken aus dem Plastikfaser-Zeug an. Dann entwickelte sich die Mode weiter, Kinder und Jugendliche folgten ihr. Jetzt saßen nur noch meine Freundin Liane und ich in Ballonseide da: Sie, Tochter einer alleinerziehenden Kantinenkraft. Ich, Gastarbeiter:innen-Kind. Zwei Loser-Mädchen in peinlicher Kleidung. So kam es mir zumindest vor, bis ich Whitney Houston in ihrem weißen Trainingsanzug sah. Der Anblick änderte nichts an der Scham, die ich wegen meiner Kleidung empfand. Er machte mich auch nicht selbstbewusster, aber ich fühlte mich nicht mehr so allein. Und für einen kurzen Moment konnte ich daran glauben, dass selbst Menschen in Ballonseide in dieser Welt etwas erreichen können. Dass es einen Platz gibt, an dem solche Außenseiter:innen nicht nur dazugehören, sondern sogar Teil von etwas Großem sind. Ohne es zu wissen, hatte ich etwas über Repräsentation und die Bedeutung von Popkultur gelernt.
Wenn man weiß, wozu Pop in der Lage ist, versteht man, wieso eine Schwarze Sängerin aus den USA 1991 für eine Tochter jugoslawischer Gastarbeitender in Deutschland so wichtig sein konnte. Warum Whitney Houston für mich, neben einer unglaublichen Sängerin, auch das Versprechen einer anderen, besseren und gerechteren Welt war. Es gab für mich später ähnliche Versprechen. Madonna war eines, genau wie die R&B-Band En Vogue, Mariah Carey und in Deutschland natürlich Tic Tac Toe. Drei Frauen, zwei Schwarz und eine of Color, alle aus dem Ruhrgebiet. Ständig sangen sie das Wort „Scheiße“ auf Bühnen und im Radio. Mehr Provokation und Revolution konnte ich mir 1995 kaum vorstellen. Ich selbst sagte im Alltag oft „scheiße“, was Erzieher:innen in Kita und Hort, Lehrer:innen und Eltern deutscher Freund:innen schon immer mit kritischen Blicken und Kommentaren quittiert hatten. Inzwischen kam auch von Freund:innen manchmal der Satz, dass man, wenn überhaupt, nur „Mist“ sage. Sie zogen dadurch eine Grenze zwischen sich selbst und mir; zwischen den Mittelschichtskindern und dem Mädchen aus der Unterschicht: Es verletzte mich.
Tic Tac Toe linderten den Schmerz, genau wie anderen Schmerz, der dadurch entstand, dass ich nicht weiß genug, nicht deutsch, wohlhabend, gebildet oder was auch immer genug war. Mit jedem Radio-Interview, Bühnenauftritt, BRAVO-Cover und jedem noch so kleinen Auftritt in irgendeiner Fernseh-Soap bewies diese Band in meiner Wahrnehmung, dass es egal war, in welche Schubladen einen diese Welt steckten wollte: Man konnte sich davon frei machen, sich entfalten. Ich könnte bleiben, wer ich war und doch jemand anders werden. Ich könnte meine Geschichte neu- und weiterschreiben – das bedeuteten Tic Tac Toe für mich. Was klingt, als hätte ich das schon immer begriffen, war damals eher ein vages Gefühl, eine Mischung aus Widerständigkeit, Mut, Hoffnung, Gemeinschaft. Ich spürte das, was wohl Identität bedeutet: Sich im Einklang mit sich selbst wahrzunehmen. Ich kam mir zum ersten Mal richtig vor. Gesehen in einer Welt, in der ich mich zwar immer nach Sichtbarkeit sehnte, gleichzeitig aber ständig versuchte, möglichst unsichtbar zu bleiben, weil ich nicht wie die Mehrheitsgesellschaft war.
Ich spürte das, was wohl Identität bedeutet: Sich im Einklang mit sich selbst wahrzunehmen.
Vermutlich ist es ein ähnlicher Wunsch nach Identität, den Jüngere heute mit Shirin David, badmómzjay, Haiyti, Elif und Nura verbinden, wofür sie Dua Lipa, Olivia Rodrigo, Rita Ora und Rosalía lieben. Ich selbst jedenfalls kann das in diesen Musikerinnen sehen, weil sie anders sind als weite Teile der sehr weißen, westlichen und angloamerikanisch dominierten Branche. Ihre Existenz und ihre Arbeit stellen eine Form von Widerstand dar. Vor allem in einem Land, das Kultur, und damit eben auch Musik, gerne in E und U einteilt. Hier ernst, künstlerisch bedeutsam und kulturell wertvoll. Dort leicht, unterhaltend, künstlerisch anspruchslos und konsumgetrieben. Was Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in den 1940ern in ihrer Dialektik der Aufklärung aufschrieben, prägt in Deutschland den gesellschaftlichen Blick auf Popmusik bis heute. „Aufklärung als Massenbetrug“ nannten die beiden Soziologen ihr Kapitel über die Kulturindustrie, die für sie „nichts als Geschäft“ war, Teil einer „ökonomischen Riesenmaschine“. Als Mensch, der kapitalismuskritisch denkt und fühlt, weiß ich, dass darin viel Wahres liegt.
So gut ich es einerseits also finde, dass Pop ein von vielen Frauen geliebtes Genre ist und dadurch stellenweise feministische Züge trägt, so genau weiß ich: Popmusik ist kein feministisches Projekt, sondern eine Industrie, die Geschlechterrollen verfestigt statt sie zu hinterfragen. All das Gerede von Diversität und Empowerment ändert nichts am realen Sexismus und anderen Ungerechtigkeiten, die die Branche durchziehen. Kulturelle Aneignung ist dafür ein anderes Beispiel. Würde Pop sich nicht bei anderen Kulturen bedienen, wäre es ein eintöniges und langweiliges Genre. Gleichzeitig werden dadurch häufig Rassismen und koloniale Machtverhältnisse reproduziert. Darüber spricht man mittlerweile zum Glück, geht sensibler damit um. Auch deshalb gibt es heute mehr Raum für Künstler:innen, die lange weder sicht- noch hörbar waren.
Aber was aus einer postkolonialen Perspektive ein Fortschritt ist, knüpft aus der Klassenperspektive an ein altes Problem an. Die „globale Klasse“ hat der britisch-deutsche Soziologe Ralf Dahrendorf dieses Problem genannt. Oft, zu oft, sind es nämlich Mitglieder einer kulturell gebildeten Mittelschicht, die es im Pop schaffen – einerseits gesellschaftlich marginalisiert, andererseits nicht nur integriert, sondern selbst Mainstream. Sie haben „die Not und Härte, die die Einwanderung mit sich bringt, nicht selbst erlebt und die soziale wie kulturelle Marginalisierung nicht erlitten. Aber sie sind sich dieser Problematik bewusst und wissen um die soziale Sprengkraft, die sie in sich birgt“, umschreibt es die Literaturwissenschaftlerin Ana Sobral in ihrem Aufsatz „Migration und Popmusik“.
Für eine Elfjährige, die keine Außenseiterin sein will, ist das egal. Aber eines Tages lernt sie, dass Whitney Houston nicht nur eine extrem talentierte Schwarze Sängerin war, sondern Tochter einer Frau, die mit Elvis Presley und Jimi Hendrix auf der Bühne stand. Die Mutter von Mariah Carey: Opernsängerin und Gesangslehrerin. Tic Tac Toe – Töchter aus gutem Hause, die gecastet wurden, was Band und Management lange verheimlichten. Auch die Biografien der No Angels erzählen vom Leben in Mittelschichts-Elternhäusern, von Musikunterricht und Frühförderung. Solche Details bleiben meist unerwähnt, weil sie das Märchen, das Pop sein kann und soll, entzaubern. Das Scheinwerferlicht richtet man deshalb auf Marginalisierungen, mit deren Hilfe sich Geschichten von Leistung und Erfolg in einer multikulturellen Gesellschaft erzählen lassen.
Wäre ich heute 11 oder 16, würde ich Dua Lipa, Rosalía und zig andere Popstars für ihr Talent und ihre harte Arbeit bewundern. Ich wüsste nichts von Klavier- und Oboenunterricht, von bürgerlichen Elternhäusern und Abschlüssen an Musikakademien. Ich würde diese Frauen sehen, zu ihrer Musik tanzen und singen und davon träumen, dass jede:r es nach oben schaffen kann – im Pop und anderswo. Weil ich eine Erwachsene bin, die kapitalismuskritisch denkt, weiß ich: Das wird nicht passieren. In einer kapitalistischen Welt wird Pop immer ein Konsumprodukt sein. Und wer Musik verkauft, verkauft ziemlich schnell auch Make-up, Mode oder Eisshakes von McDonald’s. Protest und Subversion sucht man vergeblich. Stattdessen: „boring dystopia“, wie der britisches Kulturwissenschaftler, Kapitalismustheoretiker und Popdenker Mark Fisher diesen Zustand mal nannte. Das einzige Ziel sei es, sich zu amüsieren, was aus einer linken, kapitalismuskritischen Perspektive natürlich nicht das Hauptziel sein kann.
Eine der großen Schwächen von Kapitalismustheorie und -kritik ist leider, dass sie zwar oft von Unterdrückten und Ausgegrenzten spricht, aber manchmal vergisst, eben diese anderen nach ihrem Blick auf die Welt zu fragen. Es kann also vorkommen, dass weiße Kulturkritiker wie Theodor W. Adorno und Mark Fisher Pop für seichte Feiermusik halten, während Pop für Menschen mit Migrationsgeschichte genau wegen seiner Feiertauglichkeit für Widerständigkeit und Subversion steht. Für viele Gastarbeiter:innen brachten die populären Lieder aus ihrer Heimat ein kleines bisschen Normalität in ihre Leben – in einem Land, das sie wie Arbeitsmaschinen behandelte. Im Singen, Tanzen und Feiern war man Mensch. Davon erzählt zum Beispiel der Film Liebe, D-Mark und Tod – Aşk, Mark ve Ölüm des türkischen Regisseurs Cem Kaya oder das Projekt Songs of Gastarbeiter von Schriftsteller Imran Ayata und Regisseur und Künstler Bülent Kullukcu.
Wenn man aus solchen intersektionalen Auseinandersetzungen mit Pop etwas lernen kann, dann, dass Vergnügen, Spaß und Leichtigkeit so politisch sind wie alles andere. Und das macht Pop so zwiespältig. Er ist eben nicht nur eine Amüsier-Industrie, die kapitalistische Strukturen festigt. Gleichzeitig ist Pop nicht nur ein Musikgenre, das für Freiheit und Widerständigkeit steht. Die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen. Als Sinnbild für vieles, was in dieser Welt falsch läuft, können Popsongs einem den Nerv rauben und einem doch Zuversicht und Leichtigkeit schenken. Das ist ziemlich mittelmäßig, genau wie diese Welt. Und letztlich kann man Pop nur für eben diese Mittelmäßigkeit lieben.