Ein Wort, ein Fingernagel.
Oft sitze ich vor Dokumenten ohne Schrift, die Nagelbetten brennen. Das Weiß strahlt mich an, zeigt sich unschuldig. Aber es provoziert mich. Die Leere da erinnert mich an Tagebücher aus meiner Jugend. Wenige Sätze, denen immer schnell die Puste ausgeht. Meine Finger wollen erzählen. Von mir und meinen Gefühlen, alle am Kreischen, die Wut und das Jauchzen. Sie kribbeln, aber kaum was, das ich aufschreiben könnte, scheint mir wert genug fürs Papier. Irgendwann beginne ich zu verkleiden, was ich fühle, beginne, mit den Worten anderer zu schreiben. All die treffsicheren Formulierungen, die mir fehlen, höre ich in Songs (ich lese kaum Bücher). Ich notiere mir Verse, tauche ins Universum all der Musiker:innen und mit ihrem in meins. Ich verstehe nie alles, nie alles im richtigen Kontext, aber ich mache die Textzeilen zu meinen. Für eine Weile füllen sich ein paar der Tagebuchseiten, so als könnte ich zaubern. Schnipsel (the unsuspecting victim of darkness in the valley) um Schnipsel (deine Wahrheit ist nicht meine / darum wirst du mich nie verstehen) um Schnipsel (I’m coming, not drowning).
Die Zeilen erzählen Gegenwart. Ausschnitte meines Teenagerlebens.
Ich schreibe noch immer kein Tagebuch. Aber ich notiere noch immer Stellen aus Songs oder anderen Texten (heute lese ich mehr Bücher). Ich sammle sie als Listen in meinen Notizen. Manches sehe ich nie wieder, anderes wird zu irgendeinem Zeitpunkt Einfluss auf mich und mein Schreiben nehmen.
Ein Wort, ein Fingernagel.
Das Weiß der Seiten strahlt mich auch bei diesem Text an. Manchmal muss ich lange auf den richtigen Moment warten und wenn er da ist, dann muss ich ihn packen – Kairos – eintauchen, um alles, das ich bis dahin dazu gelesen und gedacht habe, aus einem imaginären Gefäß zu holen und zu einem möglichst geschmeidigen Körper aus Buchstaben zu verflechten. Schritt für Schritt schreibe ich mich hinein. Wenn es gut läuft, werde ich selbst zum Text. Klingt fast ein bisschen theatralisch. Aber genauso fühlt es sich an. Immer öfter denke ich darüber nach, was mich dazu gebracht hat, Worte in all ihrer Geschmeidigkeit verstehen zu wollen. Mit ihnen zu spielen, mich mit ihnen zu verbinden. Vielleicht sind es all die weiblich gelesenen Körper, die ich in den vergangenen dreißig Jahren gesehen habe, die auf ihrem Weg verstummt sind, weil immer irgendwas oder irgendwer wichtiger war, lauter. 90 Prozent männlicher Nachlass in Stadtarchiven. Frauen schreiben sich nicht fort. Frauen funktionieren. Frauen sind da – und dann gehen sie, bis andere sie ablösen. Ich schreibe, also bleibe ich – so vielleicht? Die Wörter, die ich auf dem Blatt notiere, mag ich nicht immer.
Schreiben kann ein Kraftakt sein, aber ich sehe den Wörtern meist so gerne dabei zu, wie sie im Miteinander zum Leben erwachen, wie sie sich ihren Raum erschließen und meinen verändern. In meinen Notizen finde ich Alice Munros Worte: „just that everything the story tells moves [you] in such a way that you feel you’re a different person when you finish“. Ich glaube, ich bin bescheidener als die kanadische Literaturnobelpreisträgerin und sage: Nach dem Schreiben will ich nicht mehr dieselbe Person sein. Ich sage nicht, dass meine Texte mich brauchen, dass irgendwer sie braucht, aber ich brauche sie.
Ein Wort, ein Fingernagel.
Das Weiß strahlt mich an. Und nun höre ich da seit einiger Zeit dieses Piepen. Ein leises, aber es kommt näher. Ich will es ignorieren, aber nun, alle reden darüber, über diese ziemlich beeindruckende Abkürzung. Prompt, und alles könnte da sein. Kein Weiß, kein brennendes Nagelbett und so weiter. Künstliche Intelligenz. Noch schreiben Menschen die besseren Bücher, denke ich. Auch die besseren Songs, oder? Aber das alles geht schnell. Unberechenbare Maschinen, zu denen ich kein Bild im Kopf habe, von denen man sagt, dass sie bald alles können werden, lernen unermüdlich und verselbstständigen sich im Eiltempo. Das K, das I leuchten wie Sirenen in der Nacht, ziehen uns an wie Insekten im Dunkeln. Und dann lese ich einen Text, höre einen Song und sie fräsen sich in Hirn und Herz, als würde ich nass im Wind stehen.
Gänsehaut, die meine Hülle zusammenzieht, und ich bewege mich, innerlich, im Takt der Wogen, die die Zeilen in mir aufwerfen. Ich tauche in ihr Universum und mit ihnen in meins. Nun stelle ich mir vor – weil doch eben alle danach schreien –, was es hieße, würde ich erfahren: Das da hat eine KI geschrieben. Das da ist nicht echt. Und dann lese ich den Text, dann höre ich den Song noch einmal und — ist es ein Eingeständnis, eins gegen die Poesie, wenn ich mich traue, zu sagen — wenn ich eventuell denke — Künstliche Intelligenz verändert alles in mir und nichts.
Ein Wort, ein Fingernagel.
Die Leere wird dünner und ich erinnere mich, wie alles verdunstet, je nach Perspektive. Dass alles so volatil ist. Ein Blick, ein Sprung. Wie ich dachte, nie ein Smartphone haben zu wollen. Wie die Menschen dachten, dass die Erfindung von Strom Gesellschaft entsozialisieren werde, weil der wärmende Herd kein Treffpunkt mehr sein wird. Mein Körper aber scheint genauer als das zu sein. Er ist ein Archivar. Schon einzelne Worte erinnern mich und werfen mich ins gleiche Gefühl zurück, das ich irgendwann hatte. Sound-Ketten, Momente, Phasen, die ich mit Texten und Menschen verknüpfe, habe ich so eindringlich wie die skalpellschar- fen Schreie meines Neugeborenen in mir gespeichert. Alles sofort wieder da, wenn Natalie Imbruglias „Torn“ spielt, Cymbal, Gitarre, bin drin. Mein Herz bebt noch immer. It’s not just a song. Mazzy Star. The Cardigans. Emotionen balsamieren mich wie ein Chamäleon seine Beute. Ich lasse sie nicht mehr los. Kenne die Atempausen, jede Bridge, ein Flüstern, kenne die Brüche, plötzliches Up-Tempo, den Rhythmus der Worte, wie sie aufeinanderfolgen, und in ihrer Betonung den Melodien angepasst sind von jedem Song, der mich irgendwann in einem speziellen Moment begleitet hat. Und ich kann alles wieder abrufen, zack, alles da, wie es damals war. Ich rieche das Kerosin im Flieger, mein Erbrochenes in der Papiertüte, 1996 („Ready or Not“), schmecke die Party-Bär-Pizza, verliebt, 2002 („Complicated“), erstes Mal auf Lunge, Beine sinken in den Asphalt, 2004 („Somebody Told Me“), spüre die Scham für Veränderung wie nie zuvor, lila Linien auf meinen Beinen, 2006 („Naïve“), die Trennung, 2016 („Gemini Feed“), die wahre Liebe, 2018 („Teenage Fantasy“). Damals vor zehn, vor dreißig Jahren, vor zweieinhalb, fünf Wochen her. Alles ist jetzt. Manchmal spule und spule ich, hemmungslos, hänge mich auf an Emotionen, an alten und neuen, weil sie mich tragen und manchmal auch zurück in Abgründe ziehen, die längst überwunden schienen. Aber ist nicht genau das so schön? Nicht der Abgrund. Das Öffnen von Fenstern, die doch eigentlich geschlossen sind, das Antizipieren und mit dem letzten Ton des Songs, spätestens mit einem nächsten, der mit der bloßen Stimmfarbe schon wieder ganz anderes aufblättern kann, einfach weiterzuziehen. Das Parfum der besten Freundin zu riechen, achte Klasse, Jugendreise. Barrieren aufweichen, an den richtigen Stellen, fühlen, Emotionen eindringen und auch wieder entfleuchen lassen.
Ein Wort, ein Fingernagel.
Und so entgegne ich der Leere, zeige, was Schreiben mir bedeutet: Ich springe in einen Fluss und lasse mich treiben. Meine Gedanken mä- andern und ich schlingere auf dem Weg, nehme Umwege, die mich irgendwohin tragen werden. Ich wollte erzählen, dass es mir egal wäre, würde ich was lesen oder hören, das eine Maschine geschrieben hat, solange es mich berührt. Aber wie dringend ich darauf bestehen muss, weiterhin daran zu glauben, dass das Wort bleibt, mein Wort, ich sehe daran, dass auch mir, weit weg von Nostalgie und naivem Idealismus, die unkontrollierbar scheinende Übernahme insgeheim hier und da Sorgen bereitet. Die Abkürzung, die da so wuchtig in den Headlines steht. Vielleicht sitze ich auch längst in der Falle und merke es nur noch nicht. Bin schon entfremdet. Muss ich denn jeden Glauben an Poesie aufgeben? Das Wesen, das in jeder Silbe, jedem Satz, zwischen Zeilen stecken kann, die Kunst, mit Worten ein Bild zu zeichnen und dadurch alles sagen zu können. Alles, wirklich, alles auf Millionen von Weisen. Es ist kein Trick, vielleicht aber Magie. Ich drehe die Wörter, lege sie aneinander, trenne sie, führe sie woanders wieder zusammen, um etwas fühlbar werden zu lassen, das Sichtbare sichtbar zu zeichnen, das Unsichtbare zumindest zu erahnen. Wörter tröpfeln lassen, sie freilassen, wieder einfangen, Spuren legen, andere ködern.
Und manchmal besser schweigen, wenn etwas nicht wahrhaftig genug ist. Keine Angst vorm Schweigen, nein. Zartes Tasten, Schleichwege, und ich immer hinterher. Wenn ich jeden Glauben an Poesie aufgeben muss, was bleibt übrig?
Ein Wort, ein Fingernagel.
Oft sitze ich vor Dokumenten ohne Schrift, die Nagelbetten brennen. Das Weiß strahlt mich an, zeigt sich unschuldig. Es ist der Akt des Schreibens, der mir abhanden kommt. Weniger, wie ein Text am Ende dasteht, denke ich mehr darüber nach, was er mit mir macht, anderen bedeuten kann. Nun, dann lese ich den Text, dann höre ich den Song noch einmal und — Und wenn alles das artifiziell wäre, die Erzählungen davon, meine Gefühle dazu sind es nicht. Meine Erinnerungen sind stärker. Meine neuen, die archivierten Emotionen. Mein Schreiben.
Nicht kein Wort, kein Fingernagel. 268 Zeichen inklusive Leerzeichen, Prompt. Kein Weiß strahlt mich an, bin nicht nervös. Da hab ich ihn, den Text über Emotionen zu Künstlicher Intelligenz, über die Leerstellen in mir, die unkontrollierbare Maschinen erzeugen könnten. Ja nun, echt oder nicht echt, wie wäre das jetzt?