Soft Power- Editorial

 

 

 

„soft power“


noun.

 

The Oxford English Dictionary:
Power (of a nation, state, alliance, etc.) deriving from economic and
cultural influence, rather than coercion or military strength

Editorial von

BALBINA
Sprecherin AfPM und Creative Director POLYTON

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Selfie von Balbina

 

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Magazin 02/2024

ONLINE VERÖFFENTLICHT

22. Mai 2025

 

Die Übersetzung des Wortes „Power“ ins Deutsche ist vielfältig: Macht, Kraft, Energie, Leistung, Strom, Stärke, Potenz, Autorität und vieles mehr. Ein Wort, welches herrscht, gestaltet und schafft. Kein Ereignis ohne „Power“. Power wird assoziiert mit Hierarchie, singulärer Autorität und Durchsetzungskraft. Sie kann gehörig etwas anrichten und gleichzeitig etwas Erstrebenswertes erreichen. Man verbindet mit diesem Wort Persönlichkeiten wie Kamala Harris, Ursula von der Leyen, aber auch Christine Lagarde, Firmen wie Google, Vanguard oder das Time Magazine. Sie haben Einfluss auf den Lauf der Dinge, schreiben Geschichte. Eine gewisse Unnachgiebigkeit schwingt dabei immer mit, denn diese Kraft, neue Realitäten zu erschaffen, darf keine Rücksicht auf Verluste nehmen: Härte scheint ihr Schattenwurf. Weich, geschmeidig und sanft wirken selten als Attribute
für das Durchbrechen eines starren Zustands. Wenn etwas wirken soll, muss es knallen und alles andere sofort verdrängen - Reibungsverluste inklusive, oder? Ist nicht gerade das, was wir von nachhaltiger Veränderung erwarten, das Gegenteil von Brechstangen-Logik?

 

Das Leben ist definiert durch seine Dynamik, in jedem Augenblick nehmen wir die Zeit ausschließlich durch Veränderung wahr. Sie ist meist ein elastischer Fluss und nur in Ausnahmen ein Kometen-Einschlag. Ersteres wird in der Regel retrospektiv als Ereignis wahrgenommen, damit meine ich zum Beispiel den Moment, in welchem man feststellt, man ist um zehn Jahre gealtert. Der Einschnitt ist signifikant, das Ereignis dahinter: ein langwieriger Prozess.

 

Die „Female Rap Revolution“, welche die Musik-Journalistin Lisa Ludwig in dieser Ausgabe beschreibt, ist genau solch ein Prozess. Shirin David spielt ausverkaufte Hallen-Konzerte und dominiert die Charts gemeinsam mit Nina Chuba, Paula Hartmann oder auch Badmómzjay. Wann genau kam es zu dem Wandel? Denn ich muss Lisa Recht geben, auch in meinen musikalischen Anfängen galt „Frauen-Rap“ grausamerweise als Schimpfwort. Die weibliche Emanzipation im Rap ist ein Paradigmen-Wechsel, der den 20 Jahre langen konstanten, subversiven Kämpfen von Vorreiter:innen wie Miss Platnum, She-Raw, Pyranja, Nina MC, Sabrina Setlur oder Kitty Kat zu verdanken ist. Letzterer hat Shirin David auf ihrer Single „Be a Hoe/Break a Hoe“ eine Plattform gegeben, die als Wertschätzung für diesen stetigen Einsatz zu verstehen ist: „Labels sagten: ,Sorry, Kat, nein, du bist kein Model, Kat’ Die habens nicht gecheckt, ich bin ’ne Heldin wie im Comicheft“, rappt Kitty Kat und bermerkt damit fast beiläufig einen Meilenstein im Gleichstellungskampf von Frau zu Mann, der durch die Soft Power der Popmusik möglich wurde.

 

Berliner Tagesspiegel Kultur-Redakteurin Silvia Silko unterstreicht diese transformative Kraft von Popmusik in ihrem Essay: „Wie Popmusik selbst sind auch die dazugehörigen Medien schneller und einfacher am Puls der Zeit als andere Disziplinen. Sie können schneller reagieren, Zusammenhänge feststellen, Missstände identifizieren und uns die Gegenwart erklären.“ Daraus folgt, dass der Popmusik als Möglichkeitsort eine Verantwortung innewohnt. Denn ihre Soft Power kann vielseitig wirken, auch im destruktiven Sinne.

 

Was das bedeutet, konnten wir dieses Jahr anhand Gigi D’Agostinos Liebes-Hymne „L’amour Toujours“ beobachten: Sie wurde durch rechtsextremes Umtexten zu einem musikalischen Vehikel für Hass. Auf einem viral gegangenen Handy-Video sah man junge, wohlbetuchte Sylt-Urlauber:innen zu den Klängen D’Agostinos folgenden Satz grölen: „Ausländer raus - Deutschland den Deutschen - Ausländer raus“. Der Aufschrei war groß, was Monate später davon übrig bleibt, sind unzählige neue Videos von AFD-Anhänger:innen, die ihren Wahlerfolg bei den Landtagswahlen in Brandenburg mit genau dieser menschenverachtenden Version des Liedes feiern.
Deshalb muss man sich auch nicht darüber wundern, dass der smarte Sprachassistent jedes digitalen Endgerätes auf den Wunsch: „Spiele Ausländer raus“ eine endlos wirkende Playlist faschistischer Neonazi-Musik der abonnierten Streaming- Plattform ausspuckt. Ist das diese so hochgelobte Meinungsfreiheit oder nicht doch eher eine Kollision mit Artikel 1 des Grundgesetzes? Solche Themen werden mittlerweile hauptsächlich in den sozialen Medien verhandelt, und ein Zitat von Außenministerin Annalena Baerbock verdeutlicht, warum Verhandlungen gerade dort jeglicher faktischen Grundlage entbehren, denn „Hass klickt 6 mal mehr“ als alles andere, insbesondere auch als Liebe..

 

Schriftsteller:in Hengameh Yaghoobifarah schreibt in „Keine Lieder über die Liebe?“: „Das revolutionäre Potenzial der Liebe [gerät] dort gerne in Vergessenheit, wo die Sehnsucht nach Revolutionen besonders stark ist.“ Eine von Hengamehs Thesen für diesen Sachverhalt liegt in der patriarchal verklärten Definition von Liebe, die außer Acht lässt, dass Liebe auch Kameradschaft, Solidarität und Empathie sein kann. Dieses Verständnis von Liebe könnte der Schlüssel im Kampf gegen Spaltung
und Hass in der Gesellschaft sein. Doch wie ist er anzuwenden, wenn in den sozialen Medien jeglichste Zusammenhänge umgedeutet und millionenfach reproduziert werden? Was kann ein einzelner Song bewirken in einer Welt von populären Fake Facts? „Es ist unglaublich schwer, in einer Gesellschaft, die einem mit Härte, Gewalt und Grobheit begegnet, soft zu bleiben.“, schreibt Hengameh und benennt indirekt ein Hauptmerkmal, welches uns Menschen zu Menschen macht: Die emotionale Verbindung, das Wir als Potential, welches Entwicklungen ermöglicht, welches das Wir als Heimat verortet. Sowohl in den Interviews „AI your Life?“ und „Worte über Musik“ als auch in den Essays dieses Magazins zieht sich ein rosaroter Faden durch alle Inhalte: Die einzigartige Verbindung zwischen Popstar und Fan ist die emotionale, weitergedacht der Kleber dieser Gemeinschaft ist Liebe.

 

Wenn man an POLYTON denkt, denkt man zwangsläufig an die Auszeichnung der Akademie für Populäre Musik (AfPM) und das ist richtig, denn die Räume, um Held:innen der Deutschen Popkultur zu feiern, werden immer kleiner. Unsere Vielfalt an Genrediversen Mainstream-, Indie- und Newcomer-Künstler:innen ist groß, die Chance, sie miteinander zu verbinden und ihnen durch eine Nominierung oder sogar einen Preis für ihre Kreation zu danken, umso wichtiger. Wenn man bis zu den letzten Seiten dieses Heftes gelangt, trifft man auf eine Erklärung, die den Stellenwert der Popmusik in unserer Gesellschaft beleuchtet:

 

„Popmusik ist keine bloße Unterhaltung, sondern als Reflektor, Katalysator, Generator und Motor sozialer Prozesse stößt sie immer wieder neue Unterhaltungen an. In ihr und durch sie werden soziale Entwicklungen, Konflikte und Tendenzen offengelegt, verhandelt und dem Publikum in Form von künstlerischen Denkanstößen präsentiert. Die Auseinandersetzung mit dem Status quo, alternativen Lebensweisen oder gänzlich neuen Realitäten: All das und noch mehr bietet Popmusik an und prägt damit das öffentliche Bewusstsein.“

 

POLYTON als Forum für wissenschaftliche, politische oder auch gesellschaftliche Themen an der Schnittstelle zur Popmusik dient nicht nur den mittlerweile 160 Musikschaffenden der AfPM als Austragungsort für kontroverse Diskurse, sondern soll alle Disziplinen dazu einladen, an diesem Gespräch teilzunehmen. Schrifstellerin Paulina Czienskowski schreibt in ihrem Essay „Von echten und anderen Gefühlen“: „Da hab ich ihn, den Text über Emotionen zu Künstlicher Intelligenz, über die Leer- stellen in mir, die unkontrollierbare Maschinen erzeugen könnten. Ja nun, echt oder nicht echt, wie wäre das jetzt?“ Fast lyrisch ordnet sie einen Zustand ein, in welchem wir gerade gesamtgesellschaftlich verharren. Um auszuloten, wie der richtige Umgang mit dem Jetzt ist, eröffnet die AfPM mit diesem Forum verschiedensten Denker:innen Räume für Gedankenaustausch, denn die Herausforderungen im Pop sind meist die Spitze eines Eisbergs, dessen Fundament umfassend und durch alle sozialen Schichten in unsere Gemeinschaft reicht. So ist der Essay zum aktuellen Antisemitismus-Problem in der Popkultur der Schriftstellerin und Kabarettistin Michaela Dudley eine relevante Stimme, die Bruchstellen unserer Solidarität aus ihrer Perspektive als Schwarze Transfrau adressiert. Sie beobachtet Symbole und Symbolträger:innen der Popkultur, greift dadurch aber viel tiefer in ein omnipräsentes gesamtgesellschaftliches Problem.

 

Mirna Funk wiederum beschreibt, wie ihre feministische Erziehung von Salt’n’Pepa übernommen wurde, und illustriert dadurch, welchen spielerischen Einfluss die Inhalte, die wir hören, auf unsere menschliche Entwicklung und Charakterbildung haben. Jedes Element von Pop, ob es der Klang, der Look oder Text ist, gestaltet die Welt, in der wir leben, maßgeblich mit. „Im Ursprung der Technokultur ging es um die Möglichkeit, über Musik miteinander frei zu sein“ – Maria Hunstig, als VOGUE Fea- tures-Director für Mode an der Schnittstelle zu unter anderem Popkultur, formuliert in diesem Satz ein Mantra, welches ein- dringlich den Möglichkeitsraum von Popmusik definiert. Popmusik wohnt eine Kraft inne, die dem Subjekt die Utopie der bedi- nungslosen Freiheit ermöglicht. Welch gute Nachrichten, Träume scheinen erreichbar! Welch große Gefahr, wenn das Wir aus dem Blickfeld rückt. So kann ich nicht oft genug sagen: Freiheit ist eine Balance aus dem Ich und dem Wir, auch in der Kunst.