Warum die Avantgarde essenziell für den Mainstream ist

Illustration von einer jugendlichen Person mit Zöpfen und Kopfhörern, die durch ein Fenster in eine andere Welt blickt, die viel bunter und glänzender scheint. Die Person berüht mit der hand ihr Ebenbild, das schwebt und bunter und freier scheint.

Illustrationen von

Übersertzung

Caroline Whiteley

Print Ausgabe

Magazin 01 / 2023

online veröffentlicht

13 September 2024

 

"Die Avantgarde-Kunst ist ihrer Zeit voraus. Sie experimentiert mit Formen und Themen, die erst später für den Mainstream als akzeptabel angesehen werden.“

Es gibt ein Sprichwort, das dem überaus zitierfähigen Frank Zappa zugeschrieben wird: „Der Mainstream kommt zu dir, zum Underground musst du selbst hingehen.“[1] Zappa war in einzigartiger Weise qualifiziert, diese Aussage zu treffen. Als einer der bekanntesten Avantgarde-Künstler der amerikanischen Musik war er ein Grenzgänger zwischen experimentellem Progressive Rock und Musique Concrete. Ein Künstler, der Grammys gewann und Hits wie „Don’t Eat the Yellow Snow“ schrieb. Zappa war ungewöhnlich, eine Art Anomalie innerhalb seiner Generation und gehörte zu einer kleinen Gruppe von Crossover-Künstler:innen wie Kate Bush, Timbaland & Missy Elliot, Kraftwerk, Prince und Björk, die in der Vergangenheit (wenn auch unbeabsichtigt) die Grenzen der Mainstream-Musik auf die Probe stellten. Sie alle zwangen sowohl den Mainstream als auch die Avantgarde dazu, sich irgendwo in der Mitte zu treffen.

Wirft man einen Blick auf die aktuell beliebtesten Songs in Deutschland, scheint es sehr wenige stilistische Überraschungen zu geben. Dieses Jahr dominierten glänzende Pop-Importe von Miley Cyrus und Dua Lipa, reduzierte Dance-Hits der 1990er-Jahre von Eiffel 65 und Aqua sowie eine unausweichliche, generationsübergreifende Zusammenarbeit von Udo Lindenberg und Apache 207 die Charts. In diesem Fall fällt es leicht, die Behauptung von Zappa und anderen zu reproduzieren: Wo der Mainstream ist, ist die Avantgarde eben nicht.

In der Tat ist die Positionierung einer intellektuellen Avantgarde am entgegengesetzten Ende eines eindeutigen Mainstreams in unserer heutigen Wahrnehmung von Musik ziemlich unangefochten. Wir verlassen uns auf diese Konstruktionen und Hierarchien, um unsere eigenen Geschmäcker und Identitäten, sowohl kollektiv als auch individuell, zu definieren.

Das ist keineswegs eine neue Entwicklung. Seit den Anfängen bestimmter Musikrichtungen und kultureller Strömungen argumentieren Philosoph:innen und Ästhetik-Wissenschaftler:innen für oder gegen deren vermeintlichen Mehrwert. Die angebliche Trennung zwischen exklusiver, hochkultureller Musik und Wegwerf-Massenware wurde hierzulande schon vor einem Jahrhundert markiert.

Auf der Flucht vor der doppelten existenziellen Bedrohung durch Antisemitismus und Antiintellektualismus in den frühen 1930er-Jahren verlegten die jüdischen Kulturwissenschaftler:innen, die mit dem Institut für Sozialforschung der Universität Frankfurt verbunden waren, ihr Projekt vorübergehend an die Columbia University in den Vereinigten Staaten.

Dies erwies sich auch für die amerikanische Gesellschaft als eine entscheidende Zeit. Während die Bevölkerung im ganzen Land zunehmend nach einer Lösung für die trostlose Situation der Großen Depression suchte, legten neu industrialisierte Ansätze in der Kulturproduktion den Grundstein für die Zukunft der Unterhaltung in den Massenmedien. Die Menschen tanzten zu Big Band Jazz, lasen die Boulevardzeitungen der Zeit, versammelten sich zu Hause um das Radio und in der Öffentlichkeit um die Jukeboxen und staunten, als der Tonfilm und die Farbtechnik das Kino zu hyperrealem Leben erweckten.

Theodor Adorno beobachtete das Aufkommen der Massenkultur mit besonderer Verachtung. Seine Schriften über das, was er die „Kulturindustrie“ nannte, waren vernichtend. Adorno war selbst Komponist. Seine Theorien über den ästhetischen Wert der Musik galten als bahnbrechend: Adorno betrachtete die „ernste Musik“ (hauptsächlich Beethoven) als völlig getrennt von der korrumpierenden, fabrikartig hergestellten Leere der unseriösen Unterhaltungsmusik (im Grunde alles, was nicht Beethoven war). Adorno war zweifellos ein schrecklicher Snob, aber durch seine überzeugende Schreibweise und die effektive Anwendung marxistischer Prinzipien auf die Kunst hatte er eine hierarchische Sicht auf die populäre Musik etabliert, die lange Zeit in die konsumorientierte Nachkriegsära hineinreichte.

Diese einfache binäre Kategorisierung der Musik (die längst von anderen Wissenschaftler:innen kritisiert worden ist) lässt reichhaltigere und nuanciertere Interpretationen von Avantgarde- und Mainstream-Musik außer Acht. Sie weigert sich anzuerkennen, dass weder der Mainstream noch die Avantgarde ohne die jeweils andere Musik existieren könnten, und dass sie in einer ewigen Push-Pull-Dynamik miteinander verbunden sind.

Die amerikanische Soziologin Jennifer C. Lena benannte die geschlossene und unvorhersehbare Natur der Avantgarde-Musik als den Grund für ihre charakteristisch kurze Lebensdauer. „Avantgarde-Kreise sind gespalten und haben keine Anführer:innen“, schrieb sie. „Deshalb lösen sie sich in der Regel innerhalb weniger Monate wieder auf, entweder wegen mangelnder Anerkennung oder weil nur ein kleiner Kreis von Teilnehmenden breitere Anerkennung erhält.“[2]

"Die Avantgarde ist also dazu verdammt, hell und schnell zu brennen."

Der deutsche Medienwissenschaftler Malte Hagener stellte in ähnlicher Weise fest, dass „die Avantgarde-Kunst ihrer Zeit voraus ist … [sie] experimentiert mit Formen und Themen, die erst später für den Mainstream als akzeptabel angesehen werden.“[3]

Die Avantgarde ist also dazu verdammt, hell und schnell zu brennen. Der Mainstream wird unweigerlich einige Merkmale davon übernehmen, um das Projekt der Populärkultur immer wieder neu voranzutreiben. Doch der Mainstream wühlt nicht einfach nur passiv in der Asche von dem, was in der Vergangenheit spektakulär war, sondern erfindet aktiv neu, was den meisten Menschen später schmackhaft gemacht wird. Oder, um es mit den Worten Brian Enos zu sagen: „Avantgarde-Musik ist sozusagen Forschungsmusik. Man freut sich, dass jemand sie gemacht hat, aber man will sie nicht unbedingt hören.“[4]

Exklusivität, Unvorhersehbarkeit und ein geringes Maß an Genießbarkeit sind Kernelemente der Avantgarde, die nichts damit zu tun haben, ob die Avantgarde intrinsisch mehr kulturellen Wert hat oder nicht. Ähnlich komplex sind unsere kulturellen Annahmen sowie Missverständnisse und Vorurteile gegenüber dem Mainstream, die es zu entschlüsseln gilt. Unser kollektives Verständnis von Mainstream-Musik gibt Aufschluss über den geringen Wert, den wir dieser Kunstform beimessen – sie gilt als kleinster gemeinsamer Nenner, als Ort, an dem die Unterscheidungsfähigkeit endet, als Endstation für alles, was nicht kompliziert genug ist, um irgendwo anders hinzugehören. Unser kollektives Verständnis von Mainstream-Musik spiegelt sich auch in den Bewertungen über das Publikum, für das Mainstream-Musik vermeintlich gedacht ist: die Jungen, die Frauen, die Mittel- und Unterschichten.

Die kanadische Autorin Rayne Fisher-Quann nannte diese geschlechtsspezifische Codierung der Mainstream-Kultur als Grund dafür, warum es so einfach sei, diese zu verunglimpfen. „Es ist leicht, Fehler in etwas zu finden, das man bereits verachtet“, sagte sie. „Ich glaube, dass junge Frauen … die wichtigsten Lenkerinnen der Kultur und die interessantesten Menschen der Welt sind.“[5] In ähnlicher Weise betonte Constance Grady in einem Beitrag für Vox, dass junge Frauen und Mädchen als verhasste, treibende Kraft der populären Musik im Nachhinein eben doch häufig das richtige Gespür zeigten. „Teenager-Mädchen waren diejenigen, die die Beatles zuerst liebten, als der Rest der Welt sie nicht verstand“, schreibt sie. „Erwachsene nannten diese Beatle-verrückten Teenager-Mädchen übersexualisiert und hysterisch – bis sie schließlich auch die Perfektion erkannten … Teenager-Mädchen sind zugleich Punching Bag, Cash Cow und Gatekeeperinnen. Zu sagen, dass etwas für Teenager-Mädchen gemacht wurde, ist immer noch der einfachste Weg, ein Musikstück herabzuwürdigen.“[6]

Es gibt aber einen Weg, um mit der jahrzehntealten hierarchischen Vorstellung über die Avantgarde und die Diskreditierung des Geschmacks von marginalisierten Communities (die in erster Linie den Mainstream prägen) zu brechen. Wir könnten tun, was Zappa getan hat (anstatt das zu tun, was Zappa gesagt hat) und die Punkte suchen, an denen sich die Strömungen von Avantgarde und Mainstream kreuzen. Denn das tun sie oft. Die Avantgarde war da, als Sister Rosetta Tharpe ihren Blues in den 1940er-Jahren elektrifizierte und verzerrte, und sie führte Jimi Hendrix’ geschickte Finger, als er seine Gitarre sprechen ließ, als hätte sie eine Stimme. Die Avantgarde steckt im Theremin in „Good Vibrations“ von den Beach Boys und in den 3,5 Meter langen analogen Tonbandschleifen, die die Soft-Rock-Stars 10CC in Handarbeit zu dem geisterhaften Background-Chor von „I’m Not in Love“ zusammensetzten.

Die Avantgarde floss in Peter Framptons Talk Box und Kool Hercs Beat-Juggling. Es ist das verbissene, maschinelle Streben von Kraftwerk, jede Spur menschlicher Existenz aus ihrem Sound zu löschen und von The Neptunes, die die Pop-Charts auf die spärlichsten Klangelemente reduzierten.

Viele dieser Beispiele wissen wir erst im Rückblick zu schätzen; mit etwas Abstand können wir erkennen, wie zukunftsweisend Mainstream-Musik sein kann. Es könnte sich also lohnen, die heutigen Top-Charts mit ihrem Mangel an Überraschungen noch einmal neu zu betrachten, um darüber zu spekulieren, was wir bald für die schrägsten, experimentellsten und avantgardistischsten Spuren halten werden, die derzeit unbemerkt durch den Mainstream fließen.

 

KÜNSTLER:INNEN-STATEMENTS

Cäthe

„Ohne den Mut und die Hingabe der Avantgarde käme der Mainstream nicht mal bis zur nächsten Straßenecke. Der Mainstream braucht die Avantgarde, die Avantgarde aber nicht den Mainstream. Ich glaub, das sagt alles. Die Avantgarde findet die Sprache, der Mainstream nutzt sie. Die Avantgarde gibt die Wirklichkeit wieder, der Mainstream ahmt sie nach.“

 

Rocko Schamoni

„Das Verhältnis beider Gruppen hat sich verändert. In meiner Jugend war das Interesse vom M. an der A. eher heuchlerisch. Mittlerweile kann sich der M. nicht mehr leisten, desinteressiert zu sein, die Produktionsmittel sind für alle verfügbar und aus den unscheinbarsten Quellen kommen die wichtigsten Impulse.“

 

Maeckes

„Die Avantgarde setzt wie immer ihre Pfoten in den kalten, frischen Schnee – wie immer an der exakten Stelle, über die der Mainstream später wild jodelnd runterrodelt, bis es keinen Schnee mehr gibt.“

 

Lie Ning

„Es haben alle zu viel Schiss, was zu wagen. Wenn aber mal ein neuer Sound aus Österreich und Deutschland kommt, schreibt das jeweilige Land ihn sich auf die Fahne oder wird von den vielversprechenden Künstler:innen verlassen. Die Berliner Visionär:innen spielen im Ausland und Kim Petras wurde hier nicht mal nach ihrem riesen Welterfolg vernünftig gefeiert.“

 

DJ Gigola

„Kultur ist eine Reaktion auf die sich ständig wandelnde Umwelt. Ein Charakteristikum von Avantgarde ist, dass sie Veränderungen am frühesten wahrnehmen und abbilden kann. Der Mainstream repräsentiert den Status quo. Erst wenn das, was die Avantgarde abbildet, eine Idee, Reaktion, ein Gefühl ist, das von einer Masse geteilt wird, kann dies Mainstream werden. Veränderung bedeutet immer auch Unbequemheit, Gewohnheiten durchbrechen und Systeme neu ordnen. Heute ist der Mainstream die breite Fläche, in der viele Charakteristika von Subkulturen aufgegriffen werden, ohne diese zu vertiefen. Es ist schwer vorhersehbar, ob eine internetverbundene Generation eine Kultur schaffen kann, in der Originalität tatsächlich noch stattfindet oder ob diese Generation, die in der Gleichzeitigkeit groß wird, überhaupt noch subkulturelle Abgrenzung benötigt, um Identität zu finden.“

 

Perel

„Den Underground an sich gibt es nicht mehr, sondern nur unendlich viele verschiedene Strömungen. Sicherlich gibt es Trends, die sich mehr durchsetzen als andere. Aber eine klare Trennung ist meiner Meinung nach nicht vorhanden. ,Avantgarde’ und ,Mainstream’ sind daher auch extrem schwammige Begriffe geworden, aufgrund der vielen verschiedenen Strömungen, die gleichzeitig existieren und kommerziell erfolgreich sind.“

 

MADANII

„Ich würde die Musiker:innen als avantgardistisch definieren, die etwas tun, was neu ist und bislang noch nicht im Mainstream stattfindet. Neue Sounds, neue Experimente. Die Avantgarde spielt insofern eine Rolle für den Mainstream, als dass sich Künstler:innen an den Ideen dieser Avantgarde bedienen und sie in den Mainstream holen. Andererseits können aber auch Künstler:innen, die schon im Mainstream sind, Avantgardist:innen sein, dadurch, dass sie Exposure haben, künstlerische Freiheit, Geld und Macht. Avantgarde und Mainstream sind nicht per se Gegensätze. Sie sind vielmehr voneinander abhängig.“

 

ASA 808

„Auch wenn es keine holzschnittartige Trennung gibt, würde ich schon sagen, dass es noch eine gewisse Trennung zwischen Avantgarde und Mainstream gibt. Avantgarde sind diejenigen Künstler:innen, die durch ihre Experimente und ihr Explorieren Elemente neu kombinieren und damit neue Impulse geben, die dann vom Mainstream aufgegriffen und letztlich auch vermarktet werden.“

 

Leslie Clio

„Mir fehlt der Facettenreichtum im deutschen Mainstream. Gerade als Frau gibt es Option A oder B – manchmal C, das ist dann aber schon ,crazy’. Alles andere findet nicht statt. Das ist schade, weil ich glaube, dass Menschen in Führungspositionen großen Einfluss darauf haben, was stattfindet und gesehen werden kann und somit unsere Kultur formt und prägt. Und die muss dringend viel bunter und facettenreicher werden, auch inhaltlich. Denn es gibt sie ja, diese Facetten, diese Avantgarde und tolle Künstler:innen ohne Ende. Aber sie müssen auch sichtbar werden.“

 

Alexa Feser

„Was ist in Deutschland Mainstream? Was ist in Deutschland Avantgarde? Deutschland hat doch ein grundsätzliches Problem mit Kunstschaffenden jeglicher Art. Es wird alles kategorisiert und bewertet, anstatt alles als einen eklektischen Pool zu begreifen und Dinge eben nicht zu trennen. Allein die Frage impliziert das. Wenn ich in andere Länder schaue, sehe ich diese Trennung von Stilistiken nicht. Alles ist erlaubt. Künstler:innen nehmen sich das Recht heraus, Dinge nicht einzuordnen und zu benennen. Keiner hat Angst davor. Alles kann zusammenpassen. Alles ist Teil voneinander. Jedes Molekül, das sich bewegt, beeinflusst alles. Mainstream kann Avantgarde sein und Avantgarde ist Mainstream. Kunst kennt weder das eine noch das andere. Es passiert und ist im besten Fall ALLES. Bestes Beispiel: Rosaliá.“

 

[2]

Lena, J. C. (2012). Banding together: How communities create genres in popular music (p. 30). Princeton University Press.

[3]

Hagener, M. (2007). Moving forward, looking back: The European avant-garde and the invention of film culture, 1919-1939 (p. 37). Amsterdam University Press.