Popmusik als Inspiration: Dieter Gorny

To feel, to believe, to act

Polaroid: Dieter Gorny

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Polaroid von

Print Ausgabe

Magazin 01 / 2023

Online Veröffentlicht

09 September 2024

Mit VIVA übersetzte Dieter Gorny Musikfernsehen auf Deutsch – allen Widerständen zum Trotz. Der Medienmanager, Musiker und Aufsichtsratsvorsitzende der Initiative Musik gründete Ende der 1980er mit der Popkomm eine der wichtigsten Fachmessen für Popmusik. Als Gründungsmitglied der Akademie für Populäre Musik ist er Teil einer Gemeinschaft Musikschaffender, die gemeinsam an einem neuen Forum für Popmusik bastelt.

Dieter Gorny

Ideen können Berge versetzen. Ich finde den Moment am spannendsten, wenn aus einer Idee etwas Konkretes wird. Viele Menschen kritisieren Ideen am Anfang, weil sie nicht die Fantasie haben, sich etwas, was sich noch nicht manifestiert hat – was also noch nicht be-greifbar ist – vorzustellen. Es braucht Selbstbewusstsein und Mut, die eigene Idee trotzdem weiterzuverfolgen.

Anfang der 1990er war ich in Tokio auf einer Konferenz. Dort hielt der CEO eines Hardware-Konzerns einen Vortrag und sagte sinngemäß: „Wenn wir ein neues Produkt entwickeln, dann machen wir das immer in drei Schritten. Erster Schritt: to feel. Zweiter Schritt: to believe. Dritter Schritt: to act.” Ich fand es faszinierend, dass jemand aus so einem kapitalmarktorientierten Umfeld sagte: „Als allererstes muss ich ein Gefühl haben. Und dann muss ich daran glauben. Erst dann fange ich an, zu planen und es am Ende herzustellen.“

Das war für mich ein totaler Schlüsselmoment, an den ich mich auch erinnert habe, als wir VIVA gegründet haben. Als wir gesagt haben, wir wollen ein deutsches Musikfernsehen machen, gab es erstmal kollektives Gelächter: „Ihr wollt gegen MTV antreten? Das ist medialer Suizid! Wie soll das denn gehen?“ Das sind genau die Momente, wo es für mich magisch wird. Weil man diese Dinge nicht planen kann. Es hat sehr viel mit Fantasie, mit Gefühl zu tun. Mit sich anstrengen. Und auch mit dem Mut, genau in dieser Phase dranzubleiben und sich nicht entmutigen zu lassen.

To feel, to believe, to act – das ist mir auch bei der allerersten VIVA-Moderation begegnet. Klar, den ersten Song, der auf VIVA lief, „Zu geil für diese Welt“ von den Fantastischen Vier, den konnten wir planen: „Der Tag fängt an und dann fragst du dich: Wo geht’s lang? Was will ich, was mach’ ich jetzt? Wie fang ich’s an? Und voller Tatendrang machst du die Augen auf, mach’ sie auf, mach’ die Augen auf! Und dann sagst du: ,Mannomann, was ich machen kann!’“.

3 Bildschirme mit jeweils einem Bild von Mola Adebisi, Nils Bokelberg, Heike Makatsch

Bild: Mola Adebisi,  Heike Makatsch, Nils Bokelberg

 

Darauf folgte, was das Trio aus Mola Adebisi, Nils Bokelberg und Heike Makatsch daraus machte: Ein interaktives, authentisches Experiment. Uns war damals wichtig: Wir müssen zum Anfassen sein. MTV machte damals viel mit einer Bluebox. Bei VIVA saßen alle auf einem Dachboden. Mola in einer Hängematte. Nils mit der Pudelmütze daneben. Und Heike mit ihren Zöpfchen sagte in die Kamera: „Hallo, wir sind VIVA. Und wir sind euer Freund. Und ab heute bleiben wir für immer zusammen.“

Das war eine geschickte Formulierung: „Wir machen den Sender jetzt mit euch zusammen. Wir sind euer Begleiter.“ Die meisten Leute haben gesagt: „Was soll das? Das wird sowieso nichts!“ Das Zeitgeist-Magazin Tempo brachte damals einen VIVA-Artikel mit dem Titel „Sesamstraße auf Speed“. In solchen Momenten den Mut nicht zu verlieren, das war das Entscheidende. Natürlich gehörte auch Glück dazu. Ein halbes Jahr zu früh oder zu spät wäre das Ding vielleicht gar nichts geworden. Aber es kam eben genau auf den Punkt.

Mit den VIVA-Moderator:innen konnten sich die Kids identifizieren. Wenn ein:e MTV-Moderator:in zu einem Popstar ging, fühlte er/sie sich cool und zugehörig. Die Kids am Fernseher durften vielleicht durchs Schlüsselloch ins Hotelzimmer gucken. Heike aber war in der Lage, zu sagen: „Boah, ich bin total aufgeregt!“ Und nahm die Zuschauer:innen einfach mit ins Zimmer. Das war die Magie, die den Sender ausgemacht hat. Die verwackelte Kamera, diese ungeheure Authentizität. Und auch die Entscheidung, zu den Moderator:innen sagen: „Fühl dich wohl, entwickle dich. Da ist kein Klebestreifen auf dem Boden, der sagt: Hier musst du dich hinstellen.“

Man wurde miteinander groß. Innerhalb eines Jahres war VIVA maßlos erfolgreich. Dann wollten es natürlich alle gewusst haben. Für mich bedeutet Mut, dass man trotz erkennbarer Risiken und vorhandener Ängste an das glaubt, was man tut. Allen Widerständen zum Trotz. Generell würde ich mir wünschen, dass wir uns mutiger auf neue Ideen und Technologien einlassen – so wie aktuell beim Thema künstliche Intelligenz. Die meisten haben Angst davor, statt die Potenziale zu sehen. Ich liebe solche Übergangssituationen. Weil uns neue Technologien dazu zwingen, neu zu denken.

Bildnachweis

VIVA-Sendestart 1993