Roundtable: Macht und Gegenmacht im Internet

Illustration von Herbetr Grönemeyer

Durch das Gespräch führte

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Magazin 01 / 2023

Online Veröffentlicht

18. November 2023

Matthias Pfeffer ist Philosoph, TV-Journalist, Autor und Produzent. Paul Nemitz ist Hauptberater in der Generaldirektion Justiz und Verbraucher der Europäischen Kommission. Gemeinsam haben sie das Buch Prinzip Mensch. Macht, Freiheit und Demokratie im Zeitalter der Künstlichen Intelligenz verfasst – eine umfassende Analyse von Macht und Anarchie in einem Cyberspace, der zunehmend von einigen wenigen großen Konzernen kontrolliert wird und nach ihren Regeln funktioniert. Herbert Grönemeyer ist Herbert Grönemeyer und einer der lautesten Kritiker eben solcher Entwicklungen in der Musikbranche. Im gemeinsamen Gespräch fragten sich die drei: Wie konnte es eigentlich so weit kommen? Und wie kommen wir da nun wieder raus?

Kristoffer Cornils

Matthias, wir nehmen die Gestaltung und Funktionsweisen des Internets hin, als wären sie naturgegeben. In Prinzip Mensch arbeitet ihr allerdings heraus, dass sie das Produkt einer sehr konkreten Ideologie sind. Wie definiert sich diese?

Matthias Pfeffer

Wenn man sich mit den Anfängen der Cyberkultur in den sechziger Jahren in Kalifornien beschäftigt, wird deutlich: Es ging vom Happy-Hippie-Internet zum Algorithmus, bei dem jeder mit muss. In der Hippie-Zeit wurde der Personal Computer entwickelt und sogar die Grundlagen des World Wide Web gelegt. Die Vernetzung von PCs und Einzelpersonen wurde als Ermächtigung verstanden. Daraus entwickelte sich die Idee, dass die zunehmende Vernetzung zu einer universellen Verständigung der Menschheit führen würde. Aus dieser Begeisterung heraus wurde gefordert, dass die Regierungen den neuen Cyberspace auf keinen Fall überwachen und regulieren sollten. Der Grundimpuls war ein anarchistischer und zielte auf absolute Freiheit ab. Schon vor der Einführung des World Wide Web existierten Vorstufen davon, die auf der Selbstregulierung der teilnehmenden Personen basierten. Dieser Grundsatz floss im Jahr 1996 in die „Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace“ von John Perry Barlow ein, der damit das unausgesprochene Gesetz festhielt, dass im Internet keine Gesetze zu gelten hätten.

Paul Nemitz

Barlow war übrigens Texter der Band Grateful Dead …

Herbert Grönemeyer

… und vielleicht die ganze Zeit auf Drogen!

(Gelächter)

MP

Der Vordenker der sogenannten Kalifornischen Ideologie, Stewart Brand, stand eines Tages tatsächlich auf LSD auf einem Hausdach und beobachtete die Erdkrümmung. Danach erzwang er die Veröffentlichung der aus dem Weltraum angefertigten Aufnahmen der Erde. Aus demselben Gedanken heraus wurde das Internet als Mittel betrachtet, das Zugang zum Wissen der Welt verschafft und alle Menschen miteinander verbindet. Firmen wie Google und Facebook formulierten dann später ähnliche Ansprüche. Google will laut eigenem „Mission Statement“ das Wissen der Welt für jedermann zugänglich machen, Facebook alle Menschen auf dem Planeten miteinander verbinden. Der Denkfehler hinter diesen Visionen lag in der Annahme, dabei auf alle Gesetze, Normen und bindende Regeln verzichten zu können. Die im Umfeld der Kalifornischen Ideologie gegründeten Firmen nutzten genau das aus, um das Internet brutal für ihre Zwecke zu vermachten. Sie bilden heute weltweite Monopole und schreiben Algorithmen, um sie für ihre Geschäftszwecke einzusetzen. Das ist schädlich für die Demokratie und die Selbstbestimmung von Individuen. Mit Hinblick auf KI befinden wir uns aktuell an der Schwelle zur zweiten Phase dieser Revolution. In der ersten wurde die Verteilung von Inhalten über Algorithmen geregelt: Facebook steuert die Newsfeeds. Google entscheidet, welches Wissen der Welt auf welchen Plätzen in seinen Rankings auftaucht. Amazon sagt voraus, was wir als nächstes kaufen möchten. Und wir alle wissen gar nicht, wie genau das abläuft.

KC

Wie hat sich das im Musikgeschäft bemerkbar gemacht?

MP

Zuallererst wurde all die Musik zugänglich gemacht. Das verlieh den Firmen eine unheimliche Macht, weil sie die Zugänge zu diesem Angebot monopolisieren. Sie bestimmen, wie der Katalog durchsucht werden kann und was den Menschen empfohlen wird. Denn das neue Paradigma ist das der Personalisierung. Ob Musik, Werbung oder Nachrichten: Das bekommen wir mittlerweile alles individuell zugespielt. Schlussendlich ist man immer weniger mit anderen Menschen verbunden, weil man immer mehr auf die eigenen Bedürfnisse und ihre Befriedigung achtet. Mithilfe von KI wird nun allerdings durch große Konzerne auch die Produktion von Inhalten automatisiert, was auf Basis illegal gewonnener Datensätze geschieht. Wenn mir aber zukünftig gänzlich andere Musik als euch vorgespielt wird, Musik, die vielleicht von einer KI extra für mich generiert wurde: Was passiert dann eigentlich mit dem Gemeinschaftserlebnis, das wir mit Musik verbinden? Diese Gemeinschaft gäbe es nicht mehr. Das ist gefährlich, denn die Menschen kommunizieren dann nicht mehr untereinander, sie vereinigen sich nicht miteinander und können keine gemeinsame Macht mehr ausüben. Sie können nicht mehr demokratisch agieren.

Illustration von Matthias Pfeffer
Illustration von Matthias Pfeffer

 

KC

Dabei wurde ihnen doch genau das Gegenteil versprochen. In der Musikwelt herrschte und herrscht weiterhin eine gewisse Ambivalenz vor: Einerseits stellte das Internet einen neuen Vertriebskanal dar, der nicht den Gesetzen der konventionellen Musikindustrie gehorchte. Andererseits zeigte sich schnell, dass Künstler:innen kaum Kontrolle über ihre Werke und die Wertschöpfung daraus hatten. Herbert, wie hast du das wahrgenommen?

HG

Ich komme aus einer Generation, die sich durch Vinyl- und CD-Verkäufe ihre Existenz sichern konnte. Aus meiner Sicht drehte sich die zentrale Debatte deshalb immer eher um Piraterie. Die gab es schon lange in Form von Musikkassetten und so weiter, doch Napster und Co. haben sie massiv vereinfacht und beschleunigt. In dieser Krise kamen die Streamingdienste für die Industrie wie gerufen und haben an den Künstler:innen vorbei mit den Plattenfirmen geheime Deals abgeschlossen. Zuvor standen die Chefetagen der Plattenfirmen und die Popstars immer in einer Art Kampf oder Wettbewerb miteinander. Die Bosse litten darunter, dass sie nicht die eigentlichen Stars waren. Uns Künstler:innen wurde versichert, dass wir von ihnen fair repräsentiert würden und dass alles wieder besser würde. Wir waren nicht organisiert und haben sie gewähren lassen. Ein paar Jahre nach der Etablierung der Streaming-Ökonomie kehrten sich deshalb die Verhältnisse um: Die CEOs der Major-Labels schütten sich heutzutage dreistellige Millionenbeträge als Jahresbonus aus, während wir froh darüber sind, dass wir überhaupt Geld von der Resterampe erhalten.

HG

Kann ich als Künstler denn einfordern, diese Daten einzusehen?

KC

Welche Auswirkungen hat das auf eure Arbeit?

HG

Unsere Alben dienen heutzutage hauptsächlich dazu, andere Produkte zu bewerben – Tourneen, Merchandising und so weiter. Währenddessen reichen die Plattformen Milliardenbeträge an die Plattenfirmen weiter. Wir wissen aber nicht, was dort genau passiert und nach welchen Regeln die Gelder verteilt werden. Diese Firmen wiederum wissen aber, dass wir keine juristische Handhabe haben. Es gibt keine einheitliche Rechtslage und in Deutschland sind wir diesbezüglich sogar einen Sonderweg gegangen. Das hat uns allerdings nicht geholfen. Das System wurde von Firmen etabliert, die jetzt schon wissen, was sie in einem halben Jahrzehnt verdienen werden. Sie brauchen eigentlich keine Künstler:innen mehr. Ob ich nun ein Album aufnehme oder mir ein Toastbrot mache – das ist für eine Plattenfirma irrelevant. Und das, obwohl außerhalb der Musikindustrie niemand diese Labels kennt und weiß, was sie eigentlich machen (lacht)! Sie haben ein System implementiert und machen sich das Digitale zunutze. Das alles war möglich, weil diese Firmen einen rechtsfreien Raum entdeckt haben, wir zu spät aufgewacht sind und zum Beispiel an die Politik herangegangen sind. Die aber versteht unsere komplexen Anliegen bisher nicht zur Gänze.

PN

Die Politik hat viel zugesehen und zu wenig reguliert. Aktuell jedoch befinden wir uns in einer Phase, in der wir von einer „Renaissance des Rechts” sprechen könnten. Historisch gesehen traf die Kalifornische Ideologie der Tech-Hippies auf eine klassisch neoliberale Denkweise. Beide sahen in Gesetzen vor allem Innovationshemmnisse oder lästige Kostenfaktoren. Damit ist es zumindest in Europa vorbei. Der Digital Markets Act, der Digital Services Act, der Digital Governance Act, der AI Act und die Datenschutzgrundverordnung, an der ich federführend beteiligt war: Das alles sind Anzeichen dafür, dass es erstens mit dem Glauben an die Selbstregulierung vorbei ist und zweitens unsere Demokratie noch handlungsfähig ist. Darin unterscheiden wir uns von den USA. Wir bekommen das in Europa momentan noch gebacken. Ich sage „noch”, weil wir uns mit einer doppelten Krise der Demokratie konfrontiert sehen. Sie befindet sich im Zangengriff sowohl der Kalifornischen Ideologie als auch des politischen Populismus und Autoritarismus, die die Demokratie abschaffen wollen. In diesem Sinne freut es mich außerordentlich, dass Künstler:innen sich organisieren und damit an der Demokratie teilnehmen. Das ist gerade in hochindividualisierten Berufen wie der Musik extrem schwierig. Wir leiden an dem Problem, dass die knappste Ressource unserer Zeit nicht aus neuen Ideen oder innovativen Konzepten besteht, sondern aus der Fähigkeit und dem Willen, sich zu einigen – vor allem darauf, etwas zusammen zu machen. Wir alle müssen Demokratie neu lernen und uns daran beteiligen.

HG

Niemand von uns hat zuvor daran gedacht, dass Demokratie neu und immer wieder erfunden werden muss. In unseren Köpfen war sie doch schon immer da!

PN

Ihr organisiert euch nun aber und tretet gemeinsam an die Institutionen heran, um geschlossen eure Interessen zu vertreten. Sie ähneln denen von Journalist:innen, Autor:innen von Büchern, bildenden Künstler:innen und Schauspieler:innen: Es geht um Umverteilung. Facebook oder Google machen Geld mit den persönlichen Daten der Nutzer:innen und lassen es zu einigen wenigen Menschen nach oben fließen. Entscheidend ist dabei nicht nur, wie viel Geld an die Künstler:innen fließt, sondern dass ihr weder die Verträge noch die Daten einsehen könnt, über die ein Unternehmen wie Spotify verfügt. Diese Daten begründen ihre Macht. Spotify arbeitet zum Beispiel mit Google Maps zusammen und lernt dadurch, wo sich die Menschen befinden, während sie eure Musik hören. Spotify sieht auch, wie sie sich durch die Welt bewegen oder welche Laune sie haben. So kann das Hörerprofil weiter geschärft und die entsprechende Musik gespielt werden. Google lernt im Gegenzug etwas über die emotionale Verfasstheit der Nutzer:innen und kann ihre Psychogramme ergänzen, weil das Unternehmen weiß, welche Musik zu welcher Zeit unter welchen Umständen und in welcher Intensität gehört wird. Es lässt sich etwa ermitteln, ob jemand gerade arbeitet oder einen romantischen Abend erlebt. Eure Musik wird zu Zwecken missbraucht, für die eure wildeste Fantasie nicht ausreicht.

PN

Die Rechte auf mehr Transparenz müssen erst geschaffen werden, um die Individuen – in diesem Fall die Musiker:innen – wieder gegenüber denen zu ermächtigen, die aktuell die Macht innehaben. Der Zweck vieler derzeit in der Europäischen Union erlassenen Gesetze liegt darin, die Machtkonzentration der Konzerne einzudämmen, um damit den Menschen neue Möglichkeiten zu schaffen, an der Ökonomie und auch an der demokratischen Meinungsäußerung teilzuhaben. Es geht dabei nicht nur um Geld …

MP

… sondern genauso um Selbstbestimmung und unser Menschsein. Die digitale Welt soll uns dienen – nicht umgekehrt.

PN

Die Nutzer:innen haben mittlerweile immerhin das Recht, ihre Daten einzusehen und sogar löschen zu lassen. Das sollten sie wahrnehmen. Es geht dabei gar nicht um Dinge wie von ihnen erstellte Playlists, sondern um komplexe psychologische Profile, die für Werbung genutzt werden.

Niemand von uns hat zuvor daran gedacht, dass Demokratie neu und immer wieder erfunden werden muss. In unseren Köpfen war sie doch schon immer da!

- Herbert Grönemeyer

KC

Welche Handhabe haben Künstler:innen?

PN

In einer freien Gesellschaft geht es in der demokratischen Gesetzgebung immer um checks and balances – Macht und Gegenmacht. Im Juni nächsten Jahres steht die nächste Europawahl an. Jetzt ist ein guter Zeitpunkt, um im Verbund mit Akteur:innen aus anderen Mitgliedstaaten eine Kampagne zu starten, die die Politik zwingt, das Thema aufzunehmen. Die Forderungen müssen festgehalten und nach der Wahl der EU-Kommission vorgelegt werden. Dass das zu Erfolg führen kann, haben die Prozesse von Max Schrems gegen Facebook bewiesen. Kaum mehr als 20 Aktivist:innen aus der Zivilgesellschaft haben es so geschafft, die DSGVO in die richtige Richtung zu bringen. Facebook, Google oder Microsoft haben hier in Brüssel zwar riesige Büros, die Politik hört aber auch euch zu!

KC

Einem breiten Zusammenschluss in der Kultur- und Medienbranche steht ein flächendeckendes Gefühl der Resignation im Weg. Gerade weil das Problem die wirtschaftliche Existenzgrundlage bedroht, wird einerseits die kollektive Handlungsfähigkeit und andererseits das individuelle Innovationspotenzial gehemmt.

MP

Es besteht eine Machtasymmetrie, die fast totalitäre Formen angenommen hat. Dabei spreche ich über Macht im Sinne von Max Weber: Die Mittel zu haben, Menschen zu etwas zu bewegen – auch wenn es gegen ihren Willen läuft. In unserem Buch kontrastieren wir das allerdings noch mit einer anderen Definition von Macht. Macht, schreibt Hannah Arendt, ist die Fähigkeit von Menschen, zusammen zu handeln – die gemeinsame Formulierung und Umsetzung einer Vision. Was aber geschieht durch Personalisierung? Zunächst findet durch das Internet eine Entwertung der Inhalte statt. Zum anderen wird der Konsum algorithmisch so stark personalisiert, dass die Menschen voneinander isoliert werden. Das zerstört insbesondere in der Musik das Gemeinschaftserlebnis. Jürgen Habermas hat damals in Strukturwandel der Öffentlichkeit schön beschrieben, wie bei den ersten Beethoven-Aufführungen in Wien das Publikum stark emotionale Gemeinschaftserfahrungen erlebte, was zu einem bürgerlichen Zusammenhalt führte und eine unglaubliche Macht entfaltet hat. Deshalb sprechen wir von Musik als einer universal language. Nun aber wird sie zur personalised language. Damit verlieren wir unsere Fähigkeit, eine Gegenmacht aufzubauen, weshalb sich die Machtasymmetrie vergrößert. Für Arendt macht genau dieser Prozess der Vereinzelung das Wesen des Totalitarismus aus. Aktuell gibt es noch Möglichkeiten, dem entgegenzuwirken. Viel Zeit bleibt aber nicht. Kultur wird von Menschen gemacht, von Maschinen ausgelesen, von Konzernen verwertet – ohne Rücksicht auf das Urheberrecht und Kreative, Gesellschaft und Individuen. Nun werden Künstler:innen zunehmend aus der Gleichung gestrichen. Mithilfe von KI wurde Beethovens zehnte Sinfonie bereits fertig komponiert und Frank Sinatra rappt auf Cover-Songs. Gegen die Machtasymmetrie zu handeln, ist also das höchste Gebot der Stunde.

KC

Welche Rolle kommt dabei dem Publikum zu? Aus deren Sicht ist die Sache doch recht bequem: All die Musik der Welt für 10 Euro pro Monat oder noch weniger.

HG

Das ist das Widerlichste an der ganzen Sache. Es ist, als wären die Menschen unter Drogen gestellt worden! Sie wissen nichts von den Strukturen dahinter, dass jeder Klick gleich bezahlt wird und ich höchstens anderthalb oder zwei Cent dafür bekomme, wenn sie meine Platte mal hören. Mit dem Streaming-Erlös meines neuen Albums könnte ich nicht mal ansatzweise seine Produktionskosten decken. Zum Vergleich: Von meinem Album Mensch habe ich damals 3,6 Millionen Exemplare verkauft und für meine diesjährige Tour wurden 300.000 Tickets verkauft, im nächsten Jahr rechnen wir mit 150.000. Auf dem deutschen Markt gelte ich damit als „Superstar“. Wir haben allerdings die Verkäufe meines neuen Albums mit denen der Platte zuvor verglichen und herausgefunden, dass rund 200.000 Exemplare weniger verkauft wurden. Von diesen 200.000 Menschen wiederum haben 80 Prozent weder ein Streaming-Abonnement noch kaufen sie weiterhin Tonträger. In deren Köpfen hat es sich schlicht etabliert, dass sie die Musik ja sowieso hören können. Spotify hat in der Hinsicht als Pionier und Marktführer folgendes Mindset etabliert: Die Leute kriegen hier oder dort ein bisschen Werbung eingespielt und bekommen ansonsten aber vermittelt, dass alles umsonst zu haben wäre. Und selbst wenn sie für ein Abo bezahlen, sind sie sich vielleicht gar nicht darüber im Klaren, dass am Ende des Monats ein Teil ihres Beitrags in einen großen Topf kommt und daraus anteilig ausgeschüttet wird. Wenn sie nur mein neues Album hören, geht ihr Geld also hauptsächlich an andere Künstler:innen oder irgendwelche Klickmaschinen, die die Plays manipuliert haben. Denn Streaming bildet nicht mehr ab, wie viele Menschen meine Musik hören, um bei dem Beispiel zu bleiben, sondern nur, wer einen Titel am meisten klickt. Wenn ein Song eine Milliarde Mal gespielt wird, weiß niemand, ob dahinter zehn, 5.000 oder eine Million echte Menschen stehen …

MP

… oder nur zwei Roboter!

HG

Genau! Stellen wir uns einmal vor, der Wert eines Gemäldes würde danach berechnet, wie oft es angeschaut wird! Diese Denkweise wird den Menschen gezielt antrainiert und darüber müssen sie aufgeklärt werden. Es will ihnen niemand etwas wegnehmen. Fakt ist jedoch, dass sie zur Etablierung dieses Systems beigetragen haben. Immerhin gibt es das Glücksgefühl der Gemeinschaft noch bei Live-Konzerten zu erleben. Die Euphorie rührt nicht allein daher, wie gut die Stars auf der Bühne sind. Es geht auch um das Miteinander. Es ist den Menschen anzusehen, dass sie das quasi nicht mehr kennen. Denn die gesamte Maschine arbeitet daran, dass ihnen der Gedanke nicht kommen soll, dass das etwas Schönes sein könnte.

PN

Geht es den Kids von heute auch so oder spüren das nur die Angehörigen unserer Generation?

HG

Das weiß ich nicht. Ich denke aber, es geht allen gleich, die in Pop, Rock oder Schlager unterwegs sind!

KC

Die Schere zwischen Jung und Alt klafft anderswo allerdings immer weiter auf: Wer nicht gestreamt wird, ist angeblich kulturell nicht relevant. Wer gestreamt wird, bestimmt jedoch die Industrie mittlerweile im Verbund mit den Plattformen. Darunter leidet vor allem der Nachwuchs.

PN

Der ehemalige Chef von Universal in Deutschland, Tim Renner, hat darauf hingewiesen, dass sich die Einnahmen von Künstler:innen heutzutage zu 83 Prozent aus ihren alten Katalogen generieren. Das heißt, dass all jene mit einem breiten Katalog an alter Musik recht gut verdienen. Früher war es umgekehrt, da wurden 80 Prozent der Einnahmen aus Verkäufen neuer Musik generiert. Für die Plattenfirmen stellte das einen Anreiz dar, jungen Talenten eine Chance zu geben. Renner zufolge sollten wir das Urheberrecht reformieren. Es soll nicht noch weitere 50 oder 70 Jahre nach dem Ableben der Künstler:innen greifen, sondern nur noch 25. Die Einnahmen aus all dem, was dann lizenzfrei angeboten und abgespielt werden könnte, könnte in einen speziellen Topf kommen, aus dem heraus in junge Talente investiert wird. Was haltet ihr von diesem Vorschlag?

HG

Darüber müsste ich erst nachdenken. In meinen Augen würde es das Ungleichgewicht zwischen alter und neuer Musik aber nicht auflösen. Richtig ist, dass der Katalog aktuell elementar ist. Deswegen ist der Musikmarkt mittlerweile auch für Hedgefonds so interessant: Es ist bekannt, dass er über einen längeren Zeitraum konstante Einnahmen einbringt. Die Plattenfirmen profitieren von dieser Situation auch deshalb, weil sie Personal abbauen können. Es muss sich ja niemand mehr damit beschäftigen, neue Talente aufzubauen! Früher mussten es von 20 Newcomer:innen mindestens drei schaffen. Dementsprechend wurde rund um die Uhr daran gearbeitet, sie aufzubauen. Heutzutage kann eine Newcomerin froh darüber sein, wenn irgendjemand beim Label einmal pro Woche an sie denkt.

PN

Darin zeigt sich ein Widerspruch, der für unsere Diskussion zentral ist. Auf der einen Seite steht die Behauptung, dass das Digitale automatisch für Fortschritt sorgt, während uns diese Technologien und Geschäftsmodelle in Wirklichkeit in einen versteinerten Konservatismus führen. KI etwa arbeitet mit den Daten von gestern. Anders als der Mensch kann sie sich keine Dinge vorstellen, die es noch nicht gibt. Wir aber haben Träume! Gedanken darüber, wie eine bessere Gesellschaft aussehen sollte!

MP

Die Innovationsfeindlichkeit dieser Systeme ist das eine, auf der anderen Seite regt sich Widerstand gegen die Konzerne. In Hollywood wird gestreikt, die New York Times wehrt sich gegen die Auswertung ihrer Artikel durch generative KI-Modelle. Die Sorge besteht darin, dass ihnen mittels KI die Einnahmen streitig gemacht werden und langfristig Redakteure ihren Job verlieren. Wir befinden uns wie gesagt gerade in einer zweite Phase der digitalen Revolution: Nach der Distribution von Inhalten wird nun auch ihre Produktion durch die Tech-Unternehmen übernommen.

HG

In unserer Branche haben die Menschen in den Spitzenpositionen gar keine Ahnung von Musik. Es reicht ihnen, Macht zu haben und den Künstler:innen zu erklären, was sie zu tun haben. Und das funktioniert. Es geht ja nur noch darum, damit Klicks zu generieren! Die Menschen sind deshalb auf eine spezielle Art von Musik geeicht, die im Grunde nihilistisch ist. KI ermöglicht es nun, dem Ganzen noch einen draufzusetzen. Es braucht ein System, das Innovation wieder monetarisierbar macht, sodass sich diese Verhältnisse umkehren. Die Frage lautet: Wollen wir die Retro-KI oder doch lieber eine von Menschen erbaute Zukunft?

Illustration: Paul Nemitz
Illustration: Paul Nemitz

 

KC

Wie könnte diese Zukunft aussehen?

HG

Die Streaming-Ökonomie ist nur ein Symptom dessen, wovon wir heute sprechen. Dabei geht es nicht nur um Geld. Es geht um viel mehr. Wir müssen die Avantgarde stärken, und das natürlich auch monetär. Wie sonst ließe sich in dieser Situation noch politische Haltung beziehen? Wir sollten darauf hinarbeiten, unsere ethischen Grundsätze im Internet abzubilden und zu verfestigen.

MP

Die Technologie wurde dazu entworfen, uns zu manipulieren und immer mehr Geld in die Kassen von Konzernen zu spülen. Wir könnten sie aber auch anders gestalten! KI und anderen Technologien wohnen auch utopische Potenziale inne, die wir für eine bessere Gesellschaft nutzen können. Doch die Basis einer Demokratie ist der autonome Mensch. Wenn er nicht mehr Zentrum und Ziel unserer Bemühungen ist, haben wir verloren. Denn dann sind wir es, die sich der KI angepasst haben – und nicht umgekehrt.

PN

Aus Träumen und dem Denken heraus eine bessere Welt zu entwerfen, diese Fähigkeit hat nur der Mensch. Eine menschengemachte Demokratie sollte also immer über der Technologie stehen. Wir müssen Kontrollmethoden entwickeln, um diesen Anspruch zu festigen. Wir müssen eine klare rechtliche Linie zwischen Mensch und Maschine ziehen. KI kann Bilder generieren, die kreativ aussehen, doch menschliche Rechte wie das Urheberrecht sollten solchen Produkten nicht zukommen, ebenso wie dem Geschwätz von ChatGPT und Co. keine Meinungsfreiheit zukommen darf. Das gilt auch für die Musik. Sollte es sich durchsetzen, dass KI-generierte Musik urheberrechtlich geschützt werden kann, würden die Plattenfirmen den Menschen nicht mehr brauchen, um Geld zu verdienen. Anders sähe es hingegen aus, wenn das Urheberrecht weiterhin nur für den Menschen gilt.

HG

Wenn allerdings zwei Leute behaupten, sie hätten ein eigentlich von einer KI generiertes Stück Musik geschrieben, ließe sich das schwer widerlegen. Ich sehe noch ein anderes Problem. Wir setzen uns aktuell dafür ein, ein neues Abrechnungsmodell einzuführen: Wenn ich einen Monat lang die Musik derselben Künstlerin und nichts anderes höre, sollte das dafür vorgesehene Geld aus meinem Abo-Beitrag bei ihr landen, und zwar komplett. Dieses neue System richtet sich also danach, wie die Menschen wirklich Musik hören. Doch die großen Konzerne beschäftigen eine Armada von Anwaltskanzleien, um den jetzigen Status quo zu wahren. Deshalb brauchen wir einen langen Atem und viel Unterstützung.

MP

Regulierung ist das einzige, das Schutz verspricht. Historisch gesehen wurden die Grundrechte zwar erlassen, um uns vor Übergriffen durch den Staat zu schützen, heutzutage sollten sie das allerdings in erster Linie vor der Macht der Konzerne tun. Dafür muss die Politik aktiviert werden und dazu braucht es Aufklärung. Ich war neulich bei einer Veranstaltung mit dem CEO von OpenAI, Sam Altman. Er verglich die Erfindung von ChatGPT mit der der Atombombe. Was bedeutet es, wenn ein Mann so etwas sagt und gleichzeitig jegliche politische Regulierung ablehnt? Das ist vollkommen absurd! Das sind Zusammenhänge, die plastisch auf den Punkt gebracht werden müssen. Wir können nicht darauf warten, dass die Basis für Demokratie – Selbstbestimmung und selbstbewusstes Denken, freier Zugang zu Informationen und freie Kommunikation – ausgehöhlt wird. Die Demokratie ist auf dem Rückzug, und das lässt sich statistisch belegen. Heute leben weniger Menschen in einer Demokratie als im Jahr 1989, als der Wettkampf der Systeme für beendet erklärt wurde. In 30 Jahren werden es vermutlich noch weniger sein. Es sei denn, wir schaffen es, dem Einhalt zu gebieten.

HG

Wir bewegen uns aber in einer Branche, die kriminellen Strukturen einen Nährboden gegeben hat. Die Plattenfirmen sind nun wohl oder übel Teil dieser Strukturen und müssten sich jetzt aktiv dafür einsetzen, dieses System zu reformieren. Die Aufklärung der Gesellschaft wird nicht von der KI oder dem Internet als solchem unterwandert, sondern von den Konzernen, gegen die wir antreten.

PN

Ihr müsst allerdings nicht sie überzeugen, sondern die Institutionen. Die gesetzlichen Regelungen, von denen wir heute sprechen, werden in den Parlamenten beschlossen. Ob die Plattenfirmen diesen Beschlüssen zustimmen, mag in der Politik am ehesten die Neoliberalen interessieren, die sich nach den großen Konzernen richten. Es gibt aber auch andere Mehrheiten. Deshalb macht es einen Unterschied, wo wir bei der Wahl unsere Kreuzchen setzen.

KC

Worauf sollte eine mögliche Gesetzgebung abzielen?

PN

Demokratische Politik soll mindestens dreierlei gewährleisten: Erstens sollen die Mächtigen in ihre Schranken verwiesen werden. Das ist die klassische Funktion des Wettbewerbsrechts, der Gedanke lautet: Konzentration von Macht, also Monopole oder Oligopole, ist nicht gut für Markt und Demokratie. Zweitens soll in genau diesem Sinne neuen Playern und neuen Ideen eine Chance gegeben werden. Drittens sollen die Menschen aufgeklärt werden, damit sie verstehen, was in dieser digitalen Welt passiert. Konkret mit Blick auf die Musikindustrie gesprochen sind vor allem die Beschränkung der Macht der großen Konzerne und die Ermöglichung von Kreativität und der Unterstützung junger Künstler:innen wichtig. Es geht also weniger um die eine einzelne Lösung als vielmehr um eine Mischung aus Wettbewerbsrecht, Urheberrecht und neuen Arten von Rechten – einen policy mix. Interessant fand ich zum Beispiel die Frage nach dem Zugang der Künstler:innen zu Daten über ihre Hörer:innen: Wer ist das, wo leben sie, wann hören sie Musik? Wenn solche Daten erhoben werden, sollten die Künstler:innen das Recht darauf haben, darauf zugreifen zu können. Ich persönlich bin aber der Meinung, dass die Datenprofile den großen Firmen genau das liefern, wovon Gestapo und Stasi einst geträumt haben. Deshalb sind sie mit einer freien Gesellschaft nicht zu vereinbaren und müssen verboten werden. Würde das geschehen, würde es Pforten für ein neues Denken öffnen.

MP

Wir müssen auch davon loskommen, unser Heil allein in der Innovation zu suchen, ohne dabei die möglichen schädlichen Folgen im Blick zu haben. Gestern war ich auf einer Veranstaltung zum AI-Act der Europäischen Union, auf der immer wieder dasselbe Lamento zu hören war: Wenn wir die Innovation zu sehr beschränken, werden wir abgehängt! Ganz auf der Linie von Barlows Declaration of the Independence of Cyberspace, die ausschließlich auf Selbstregierung setzte. Doch wenn wir jetzt keine klaren Regeln schaffen, dürfen wir uns nachher nicht beschweren, wenn alles den Bach runtergeht.

KC

Herbert, wie sehen deine Träume einer neuen Musikindustrie aus?

HG

Einerseits geht es mir um die Gemeinschaft mit und die Rückkopplung aus dem Publikum. Als ich zuletzt auf Tour war, wusste ich nicht einmal, ob all diese Menschen überhaupt meine neue Platte gehört haben! Andererseits arbeite ich daran, dass wir – anders als vor 15 Jahren – zusammenkommen und eigenständig ein neues System erarbeiten. Es soll abbilden, was in der Breite der Musikszene gehört wird und das entsprechend monetarisieren. Wir Künstler:innen sollten darüber entscheiden und es steuern können.