Wahrscheinlich läuft mindestens einmal am Tag ein Song im Radio, an dem Reiner „Kallas“ Hubert beteiligt war: Er ist einer der gefragtesten Schlagzeuger Deutschlands, als Session-Musiker pausenlos im Studio oder mit den ganz Großen auf Tour. Und genau dort, beim Soundcheck eines Stadionkonzertes, hat Kallas sich einst in das Schlagzeug verliebt.
Popmusik als Inspiration: Reiner "Kallas" Hubert
Mit einer Arschbombe ins kalte Wasser
Text von
Polaroid von
Print Ausgabe
Magazin 01 / 2023
Online Veröffentlicht
27 August 2024
Bild 1: Bruce Springsteen
Reiner "Kallas" Hubert
Ich kann mich noch genau an diesen Moment erinnern. Ein Freund von mir hatte mich damals mit zu einem Bruce-Springsteen-Konzert genommen. Ich war überhaupt kein Fan! Ich war damals so punkmäßig unterwegs und dachte: „Das ist Rockmusik für Onkels und Tanten!“ Aber irgendwie bin ich mit ihm auf dieses Konzert gegangen.
Nachmittags waren schon um die 40.000 Menschen im Bremer Weserstadion. Dann kam einer der Backliner raus – also einer der Leute, die immer die Instrumente auf- und abbauen. Er spielte das Schlagzeug an, einmal ganz kurz über diese riesige Anlage im Stadion. Und es war wirklich, als würde die Zeit um mich herum verschwinden. Ich stand einfach nur da und dachte: „Dieses Instrument fasziniert mich. Was auch immer passiert, ich möchte auf diese verrückte Karte setzen.“ Es war wirklich ein Schlüsselmoment, in dem ich gemerkt habe: Dieses Instrument übt eine solche Magie auf mich aus, dass ich es nicht mehr loslassen kann. Und so ist es bis heute geblieben.
Als Jugendlicher habe ich nur darauf gewartet, dass irgendjemand in Seattle endlich Grunge erfindet. Laute Musik, zu der ich energetisch Schlagzeug spielen konnte. Mich haben Leute fasziniert wie Brad Wilk, der Schlagzeuger von Rage Against the Machine. Oder Chad Smith von den Red Hot Chilli Peppers. Und natürlich Dave Grohl, der ist für mich ein Superpopstar. Das waren meine Role-Models. Ich wollte als Jugendlicher so aussehen wie sie. So Englisch reden wie sie. In einer Band spielen und Rockstar werden – so wie sie.
Mein Kindheitstraum ist nicht in Erfüllung gegangen. Heute spiele ich in ganz vielen fantastischen Bands und Projekten und bin total dankbar, in diesem verrückten Beruf arbeiten zu dürfen. Aber natürlich gab es auch Phasen, in denen ich gezweifelt habe. Ich wollte ja eigene Musik machen, als Teil einer Band Einfluss auf den Inhalt haben. Irgendwann wurde ich dann ein Sideman, also Gastmusiker, und dachte: „Wie sehr deckt sich das mit dem, was ich vorhatte?“ Gleichzeitig habe ich dadurch meine Scheuklappen runtergerissen und gelernt, mein Spektrum zu erweitern.
Das möchte ich auch als Dozent am Popkurs Hamburg weitergeben: „Springt mit einer Arschbombe ins kalte Wasser! Ihr werdet dann Dinge finden, die ihr vielleicht nicht unbedingt findet, wenn alles wie geplant läuft.“ Über Umwege lernt man oft unerwartete Dinge kennen. Mich reizt es, mich Musikrichtungen hinzugeben, die ich mir nicht auf die Fahne schreiben würde.
Bild 2: Brad Wilk
Rick Rubin, ein amerikanischer Produzent, der die Chili Peppers, Rage Against the Machine und die Beastie Boys produziert hat, hat immer gesagt: „Alles, was du nicht kannst, hast du nur noch nicht gemacht!“ Davon möchte ich mir eine Scheibe abschneiden. Dinge auszuprobieren, das finde ich mutig. Wenn wir riskieren zu scheitern. Denn dann bewegen wir uns und lernen dazu. Es ist gut für Herz und Seele, sich immer wieder auszuprobieren, die eigene Komfortzone zu verlassen. Es braucht Mut, in Bewegung zu bleiben. Und sich immer wieder zu fragen: Wo ist der nächste Tellerrand?
Mir ging es immer um die Musik. Aber es ging auch um Haltung. Ich wusste, wenn du von der Bühne aus die Menge körperlich bewegen kannst, dann kannst du sie auch gedanklich bewegen. Um auf Bruce Springsteen zurückzukommen: Der hat sicherlich unter seinen Fans auch viele Republikaner:innen. Springsteen hat immer wieder Shitstorms erlebt, weil er gesagt hat: „Fahne hoch gegen Diskriminierung. Fahne hoch gegen die amerikanische Polizei, die Schwarze Menschen nicht nur diskriminiert, sondern einfach verdammt nochmal umbringt!“
2016 wurde in North Carolina das Bathroom Bill erlassen, ein Gesetz, das transgeschlechtliche Menschen dazu zwingt, die Toilette zu benutzen, die in ihrer Geburtsurkunde steht. Da hat Bruce Springsteen ganz klar gesagt: „Okay, sorry, wenn ihr dieses Gesetz hier in North Carolina haben wollt, dann muss ich meine Konzerte dort absagen. Das ist eine krasse Form von Diskriminierung. Da mache ich nicht mit.“ Und dann hat er Konzerte für 10.000 Menschen abgesagt, um ein Zeichen zu setzen. Diese Möglichkeit habe ich als Musiker. Es gibt Dinge, die wichtiger sind als Musik.
Bildnachweise
Bild 1: Robert Wallace/Wallace Media Network/Alamy Stock Photo
Bild 2: Gary Gershoff/Getty Images