Sarah Farinf, Nazanin Noori, Westbam
Techno war mal der Sound der Zukunft. Dass die Entstehung dieser Maschinen-Musik im Detroit der späten 1980er zeitlich mit dem Mauerfall zusammenfiel, war nicht nur für Berlin ein glücklicher Zufall. Die Euphorie der 1990er verflog schnell. Die Clubkultur blieb – und wurde zum globalen Massenphänomen. Auf Dancefloors werden bis heute gesellschaftliche Fragen verhandelt. Gleichzeitig muss die Szene sich auch intern selbstkritische Fragen stellen. Wofür steht Rave in einer Zeit, in der die Vorstellung von „Zukunft“ mit einem großen Fragezeichen versehen ist?
Magazin 01 / 2023
16 Mai 2024
Anfang des Jahres ist das Buch „Raving“ der in New York lebenden Theoretikerin, Autorin und trans Aktivistin McKenzie Wark erschienen. Sie erzählt darin von ihren Erlebnissen auf Underground-Raves in Brooklyn, die gerade während der Pandemie illegal und umstritten waren. Trotzdem beschreibt sie diese Raves für sich und ihre Community als überlebensnotwendig. Sie beginnt ihr Buch mit der Frage: „First thing I look for in a rave is: Who needs it?“ Wie beantwortet ihr diese Frage, wer braucht Raves
Ich würde sagen, Menschen, die sonst in der Gesellschaft keine Orte haben. Im besten Fall können sie dort für ein paar Stunden ihr authentisches Selbst ausleben, ohne Gefahr zu laufen, Gewalt erfahren zu müssen.
„Brauchen“ ist ein starker Begriff. Für mich sind Clubs und Raves eher Sehnsuchtsorte. Weil sie das Bedürfnis stillen, sich zu entkoppeln. Dieses „andere“ Selbst zu erlauben. Wenn ich in Clubs mit Menschen ins Gespräch komme, die im echten Leben in super strukturierten, konservativen Kontexten beheimatet sind, sagen viele, dass sie an diesen Orten ihr wahres Ich zeigen können.
Ich finde es interessant, dass ihr beide Clubs als besonders „sichere Orte“ beschreibt. Historisch gesehen waren Raves das genaue Gegenteil davon. Der Begriff „Rave“ kam 1989 in England auf. Ich war dort damals mit Leuten von meiner Plattenfirma unterwegs und die sagten: „Wir gehen jetzt auf einen Rave.“ Da hatte ich das Wort noch nie gehört und fragte: „Was ist das?“ Sie sagten: „Ein Rave ist ein ganz schummriger Ort, von dem deine Eltern nicht wissen, wo er sich befindet. Das ist irgendwo draußen, weit weg. Und die Eltern haben Angst, dass du da Drogen nimmst und vielleicht nicht zurückkommst.“ Daher finde ich es interessant, wenn heute so viel von Raves als Safespaces gesprochen wird. Die Original-Raves waren illegale Veranstaltungen, wo nicht geklärt war, ob alle Bauvorschriften und Sicherheitsvorkehrungen getroffen waren. Also eigentlich der komplette Un-Safespace.
Rave begann als Gegenbewegung unterdrückter Teenies – was häufig in England ein Triebmotor der Popkultur war. Nachtleben in England sah in den 1980ern so aus, dass da ein Türsteher im Frack an einer roten Kordel stand und gesagt hat: „No jeans, no trainers“. Die Teenies kamen in die Clubs nicht rein, weil sie zu jung waren, zu bargeldlos und weil sie diese hässlichen Sportklamotten anhatten. Also haben sie selbst Raves gemacht, wo du hingehen durftest, wie du warst. Das war eine Art von Freiheit. Insofern sehe ich Rave traditionell auch immer als eine Flucht aus dieser kontrollierten Welt.
Dancemusic kommt aus der Schwulenkultur. Im Metropol konntest du dich als Schwuler sicher fühlen, aber als hetero eben auch. Da gab es eine friedliche Koexistenz.
- Westbam
Spannend, dass wir direkt so unterschiedliche Definitionen haben, wenn wir über Rave auch in seiner historischen Entwicklung sprechen. Was habt ihr persönlich im Rave für euch gefunden?
Ich hab gar nicht so bewusst gesucht. Ich bin zwar DJ und Promoterin, aber ich bin keine Party-Maus. Ich mag es, Musik körperlich zu erfahren, in einem Clubspace. Da spürt man den Bass. Im besten Fall wird mein Musikhorizont erweitert und ich merke: „Was gibt es alles für Sounds – and they make me feel some kind of way.“
Eine Art Initiationsmoment hatte ich 2009 in Berlin bei den Partys der Sick Girls. Sie haben Grime, Jungle und House miteinander verbunden. Das war echte Musikbildung für mich und hat viel mehr mit mir resoniert als die geraden Beats in anderen Clubs. Ihre Partys haben mir ein Gefühl von Zuhause, von Zugehörigkeit gegeben. Mir fällt kein anderer Ort ein, an dem man mit Menschen auf so eine intime Art und Weise zusammenkommt wie im Club. Und wo ich als nüchterne Person eine Art High erleben kann, durch die Community und die Musik.
Für mich spielte der Aspekt der Musikbildung eine wichtige Rolle. Ich habe relativ früh angefangen, rare Musik zu suchen und zu sammeln. Ich hatte damals den Eindruck, dass Musikbildung ausschließlich in privilegierteren Klassen stattfand. Die Kinder, die Instrumente erlernt haben oder mit ihren Eltern auf Konzerten waren. In Clubs hingegen habe ich Musikbildung durch die Klassen hindurch wahrgenommen. Plötzlich haben alle angefangen, Musik miteinander zu diskutieren und zu bewerten. Diese nerdy Diskurse fand ich inspirierend. Und damit einhergehend die Narrative, die zwischen unterschiedlichen Genres existieren.
Als ich das erste Mal Theo Parrish habe auflegen sehen, hat er zunächst richtige Dancefloor-Banger gespielt. Plötzlich gab es einen Switch und er legte ein sehr ambientes Piece auf, wahrscheinlich Filmmusik. Er ist an den Decks gänzlich auf diese Filmmusik ausgerastet – und so hat auch die Crowd diese ambiente Musik ebenfalls als Tanzmusik aufgefasst und ist schlussendlich auf Ambient abgeravt. Ich fand es lustig, dass jemand im Stande war, einen Raum zu schaffen, in dem dieses Andere genauso als „Fun“ empfunden wurde. Ambient ist ja nicht per se Dancemusik. But it happened to be that, in that moment.
Ich bin mit 17 zufällig in Berlin ins Metropol gekommen, einen riesigen Schwulenclub in Schöneberg. Das war für das, was ich bis heute als DJ mache, mein größtes Aha-Erlebnis. Bei den Heteros lief immer ein Lied, da kamen die einen auf die Tanzfläche. Dann lief das nächste und es kamen die anderen. Im Metropol lief ein steady Beat die ganze Nacht durch und die ganze Crowd hat gemeinsam angefangen, darauf zu toben. Dancemusic kommt ja aus der Schwulenkultur, die haben in New York in den 1970ern damit angefangen. Ich war damals nicht der einzige Hetero-Teenie im Metropol. Weil die Schwulenszene in Berlin sehr durchlässig war.
Das hat sich später in der Clubszene fortgesetzt. UFO, Planet, E-Werk, Berghain – das sind alles Läden, die im Kern auf schwuler Tanzkultur aufgebaut sind, wo aber auch anderen Leute mit dazukommen. Das ist im besten Sinne das Clubverständnis von heute. Dass es eine Gemeinschaft gibt. Und da verstehe ich dann übrigens auch das, was ihr vorhin über Schutzräume gesagt habt. Das war das Metropol, dort konntest du dich als Schwuler sicher fühlen. Aber als Hetero eben auch. Da gab es eine friedliche Koexistenz.
Der Dancefloor als großer Gleichmacher, wo unterschiedliche Lebensrealitäten aufeinandertreffen, die „draußen“ nie in Kontakt gekommen wären. Trotzdem wurde Dancemusic wie Disco und später Techno häufig vorgeworfen, dass die Musik oberflächlich, funktional und unpolitisch sei, gerade, weil es hier keine Texte und klaren Botschaften gibt. Inwiefern ist Techno – ich benutze das mal als Sammelbegriff für elektronische Tanzmusik – trotzdem politisch?
Popmusik ist immer politisch, weil sich in Popmusik ein Teil der Gesellschaft spiegelt. In diesem Sinne ist Pop immer ein politisches Statement. Die Stimmung nach dem Mauerfall war: „Jetzt kommt die ganze Welt zusammen. Die liberale, demokratische, auch kapitalistische westliche Welt hat gesiegt. Und jetzt geht es in eine ganz tolle Zukunft!“ Dieses Lebensgefühl drückte sich nicht im Gangster-Rap aus oder im Grunge. Sondern in der Technokultur. Das war modern, mit den neuesten musikalischen Mitteln. Das klang krasser und innovativer. Das hatte diese Energie und den Glauben an die Zukunft.
Dieser Glaube an die Zukunft ist in den Nullerjahren gekippt. Mit dem Anschlag auf die Twin Towers in New York wachte die westliche Gesellschaft auf und merkte: „Oh, es wollen sich doch nicht alle nackig machen und um den goldenen Engel herumtanzen.“ Dr. Motte hatte damals prognostiziert, dass wir bald Weltfrieden hätten, weil alle nur noch zusammen zu Techno tanzen. Diese Euphorie war mit 9/11 schlagartig vorbei. Ich glaube, das hat auch zum Minimal-Sound der 2000er geführt. Dass Leute gesagt haben: „Ich will gar nicht mehr die ganze Welt hier vereinen. Ich möchte nur noch mit meinen guten Leuten in meinem Club sein. Wir brauchen keine großen Ansagen mehr mit diesen Loveparade Rave-Signals. Wir wollen genau das Gegenteil.“ Ich sehe das ähnlich wie die Wendung von der Romantik zum Biedermeier. Ein Rückzug ins Private. Weil man sagte: „Jetzt wird mir die Welt zu unübersichtlich und zu gefährlich. Und ich weiß nicht mehr, wer Freund oder Feind ist. Aber im Tresor oder im Ostgut, dem Vorläufer vom Berghain, da sind alle meine Freunde.“
Techno wird gerne zum „Sound der Wende“ erklärt. Dabei liegen die Wurzeln dieser Musik unter anderem in der afroamerikanischen Community in Detroit. Sarah, mit eurer Partyreihe <em>Emergent</em> Bass setzt ihr euch dafür ein, dass diese afrodiasporischen Wurzeln von Techno sichtbar werden. Warum ist dir das wichtig
Techno wurde weißgewaschen – so wie viele andere afroamerikanische Musikgenres von Rock ’n’ Roll über Disco bis Hip Hop. Dieser Fokus auf die Erzählung von Techno als „Sound der Wende“ ist vermeidend und unehrlich. Ich war in Detroit und hatte das Privileg, mit Mike Banks, einem der Gründer des Techno-Kollektivs Underground Resistance, viel Zeit zu verbringen. Und in Detroit fällt dir schnell auf: Diese Musik ist nicht aus Spaß entstanden. Sondern sie war eine Antwort auf gesellschaftliche und politische Umstände, die oft sehr brutal waren.
Es gibt einfach verschiedene Realitäten. Die Detroit-Story kann ja auch koexistieren mit einer Version in Europa, wo es vielleicht diese Dringlichkeit nicht so krass gab. Deshalb sehe ich mich in der Verantwortung, mich als DJ, Promoterin und Musikliebhaberin zu educaten und zu gucken, wo das alles herkommt, um die Hintergründe von Techno besser zu verstehen. Was sind das für Samples? Wo kommen die her? Zu wem gehören die Stimmen auf den Tracks? Was sind die Geschichten dahinter? Je mehr man darüber lernt, umso besser kann man die Musik fühlen und wahrnehmen. Es geht mir um eine Verantwortungsübernahme.
Wann warst du in Detroit?
Das war 2018.
Und wie hast du die Szene dort wahrgenommen?
Ich habe viel Zeit mit der älteren Generation verbracht, weil ich bei Leuten vom Label Submerge gewohnt habe. Das war Teil dieser Artist Residency. Hast du Mike schon mal kennengelernt? Der ist ja voll der Geschichtenerzähler.
Ja! Hat er dir auch die Geschichte erzählt, wie er am Anfang als jemand gearbeitet hat, der für einen Vermieter Leute aus ihren Wohnungen schmeißt? Da hat er echt harte Geschichten erzählt. (mit tief verstellter Stimme) „Especially when it was cold, motherfuckers wouldn't wanna leave“.
(alle lachen)
Ich finde das Thema Detroit auch spannend. Das Wort Techno ist ja gerade in Deutschland ultraprominent. Häufig wird gesagt, dass Detroit der Ursprung von allem ist. Dabei hatte Detroit eigentlich nie eine Dance-Szene. Detroit war ideologisch stark, weil Techno hier mehr eine Idee war, ein Konzept. Chicago war mindestens genauso wichtig. Dort stand das berühmte Warehouse, in dem von DJs wie Frankie Knuckles quasi House Music erfunden wurde. Da gab es eine unheimlich lebendige Partyszene. Juan Atkins hat in Detroit Elektrofunk gespielt. Aber seine Schüler Derrick May und Kevin Saunderson haben sich nach Chicago orientiert. Einfach, weil es da eine größere Szene gab.
1988 kam die berühmte Compilation Techno! The New Dance Sound of Detroit raus, die den Begriff „Techno“ über England nach Europa gespült hat. Ich habe Derrick May 1989 nach Berlin geholt. Mike Banks und Jeff Mills, neben Robert Hood das dritte Gründungsmitglied von UR, kamen 1991 nach Berlin und haben im Tresor gespielt. Da sagte Jeff Mills zu mir: „Das ist das erste Mal, dass ich meine Musik laut höre.“ Die Wirkungsmacht von Detroit ging in Europa los. In der Rezeption hier, in Belgien, in Holland, in Deutschland, in England. In Detroit waren das so drei, vier verlorene Seelen. Hätte es den Hype in Europa nicht gegeben, hätten die das aus wirtschaftlichen Gründen irgendwann aufgeben müssen.
Ich glaube, es ist wichtig anzuerkennen, dass viele Dinge gleichzeitig stattfinden können. Mir ist es wichtig, dabei zu fragen: Wer bekommt die Aufmerksamkeit in bestimmten Geschichtsschreibungen? Ich hab Mike auch gefragt: „Wer ist denn eigentlich die weibliche Version von Mike Banks? Warum kennen wir die nicht? Oder: Warum bekommen FLINTA-DJs und Produzentinnen wie K-Hand erst nach ihrem Tod die Anerkennung?“ Auch die Detroiter Szene war super männerdominiert. Ich wünsche mir mehr kritische Fragestellungen, wenn es um Geschichtsschreibungen geht. Ich meine das sehr einladend. Denn jede:r hat eine unterschiedliche Version.
Das System wird bunt angemalt, während sich die Strukturen wenig ändern. FLINTA* und BIPoC bekommen kleinere Gagen und sitzen weniger in den Entschiedungs-Positionen der Szene.
- Sarah Farina
Stichwort Diversität und Repräsentation – für beides gibt es heute ein größeres Bewusstsein. Komplett männliche Line-ups gehen 2023 ohne Shitstorm eigentlich nicht mehr durch. Mit Ellen Allien, Peggy Gou, Charlotte de Witte oder Amelie Lens gibt es einige weibliche Superstar-DJs, die ganz oben mitspielen. Wie seht ihr diese Entwicklung in Richtung Gleichberechtigung?
Ich finde, dass das System vor allem mit sehr viel Pink- und Rainbow-Washing bunt angemalt wird, während sich die Strukturen wenig ändern. FLINTA und BIPoC bekommen oft kleinere Gagen und sitzen weniger in den Entscheidungspositionen der Szene. In diesem Jahr gab es zum ersten Mal ein Line-up im Berghain, das nur aus Schwarzen Menschen bestand. Das gab es vorher noch nie – das ist doch krass! Es muss erst Black Lives Matter, eine Bewegung aus Amerika, hier rüberschwappen, damit man erkennt: „Upsi, wir haben vielleicht auch ein Rassismusproblem.“ Hanau hat dafür aber nicht gereicht. Weil es irgendwie nicht cool genug war. Black Lives Matter hat auch viel mit Popkultur zu tun.
Und ist weit genug weg. Lieber da rüber schauen, als vor die eigene Haustür.
Manchmal hab ich so eine Wut im Bauch! Dass erst so furchtbare Sachen passieren mussten. Schon wieder! Das finde ich echt krass, dass die Geschichte nicht gereicht hat.
Absolut. Ich wollte noch was zu dem Frauenthema sagen. Ich diskutiere viel darüber: Sind Frauen in der Kunst zurückgehalten worden? Gab es die? Und wie gab es sie? Zum Beispiel in Plattenläden – egal ob ich in New York oder in Paris war – hab ich ganz, ganz wenige Frauen gesehen. Auf 100 Typen vielleicht eine Frau.
Das glaub ich dir zu 100 Prozent, dass da weniger Frauen vertreten waren. Als ich damals angefangen habe, Platten zu sammeln, weiß ich noch, wie schwer es war, in diesen Spaces ernst genommen zu werden. Wo so supernerdy Leute zueinander finden und sich gegenseitig beweisen wollen, wie viel sie wissen. Hinsichtlich der Repräsentation habe ich schon das Gefühl, dass sich das mittlerweile langsam ändert. Heute haben mehr nicht männlich gelesene Personen – vielleicht erweitern wir da den Begriff – das Selbstbewusstsein, sich auf eine Bühne zu stellen und ihre eigenen Stile zu behaupten.
Was sich noch verändern muss ist, dass nicht männlich gelesene Personen den Raum bekommen, um Punk zu werden. Die Regeln zu brechen. Sachen „falsch“ zu machen. Um sie dann neu zu erfinden. Ich habe eine Zeit lang aufgelegt. Ich hatte den Eindruck, dass es sowohl mir gegenüber als auch anderen nicht männlich gelesenen Personen gegenüber harsche Kritik gab. Man hat doppelt und dreifach geguckt, wie ich das mache. Meine Konsequenz daraus war: Ich mache es komplett anders als alle anderen. Damit gebe ich euch gar nicht erst den Raum, mein Tun im Rahmen eurer konstruierten Realität als richtig oder falsch zu bewerten. Mir ist es außerdem wichtig, das Thema Sexismus intersektional zu betrachten.
Also das Verständnis, dass verschiedene Diskriminierungsformen wie Race, Class oder Gender gleichzeitig wirken und sich wechselseitig auch verstärken können.
Genau. Es ist immer eine Frage von Privilegien: Ich kann ohne entsprechendes Equipment keine Musik machen. Um Platten kaufen zu können, brauche ich eine gewisse Kaufkraft. Wer hat die monetären Voraussetzungen, überhaupt das Handwerk zu erlernen, um bis auf eine Bühne zu kommen? Diese Diskussion um Privilegien vermisse ich in der Szene. Im Gegensatz zu den Frauen, die im Iran leben und ununterbrochen Menschenrechtsverletzungen erfahren, bin ich durchaus privilegiert, dass ich hier sitzen und mich über Musik unterhalten kann. Ich hatte das Privileg, arbeiten gehen zu können, mein Geld sparen zu können, um mir Synthesizer zuzulegen. Hätte ich ein Kind oder wäre eingeschränkt, wäre ich wahrscheinlich nicht dahin gekommen. Das steckt für mich auch in der Frage nach Zugängen drin.
Das Thema Zugänge – auch in monetärer Sicht – wird gerade seit der Pandemie auch in der Clubkulturszene spürbar. Clubeintritte von 25 Euro sind mittlerweile Standard. Gleichzeitig müssen kleine Community Spaces schließen – so wie das Berliner Mensch Meier, wo ihr mit Emergent Bass eure Partys veranstaltet habt, Sarah. Wie blickst du auf diese Entwicklung?
Das ist richtig scheiße, am Ende geht nur noch die Elite feiern. Es ist richtig, richtig schwierig. Ich hoffe, dass das den Aktivismus verstärkt, den es zum Glück in der Stadt gibt. In Berlin gibt es ja schon mehr Anerkennung für Clubkultur als in anderen deutschen Städten. Clubs werden in Berlin seit 2020 formal als Kulturstätten anerkannt, seit 2021 bundesweit. Aber das ist nicht genug. Ein Teil von mir will da gar nicht so viel darüber nachdenken, weil es mir Angst macht und viel bedeutet. Ich mache viel aktivistische Arbeit und auch da kommen wir immer wieder bei Themen wie Klasse und Arbeitsbedingungen raus. Was ich mir wünsche, in meiner Position als DJ und Produzentin, wäre, dass wir mehr über Geld sprechen. Über Gagen.
Das finde ich auch super wichtig, dass sich die Szene selbstkritischer mit ihren eigenen internen Verteilungsstrukturen auseinandersetzt. Ich sehe es zum Beispiel sehr kritisch, dass weniger bekannte DJs teilweise für kein Geld oder sehr, sehr wenig Geld spielen. Und gleichzeitig DJs Gagen im höheren vierstelligen oder fünfstelligen Bereich bekommen, dafür, dass sie Musik von Künstler:innen spielen, die an den Gagen nicht beteiligt sind. Gerade auf großen Festivals findet Musik von kleinen Labels statt, die vielleicht 100 Euro über Bandcamp eingenommen haben für einen Release. Ich spreche von Künstler:innen, die im Ausland produzieren, die wirklich mit Ach und Krach neben ihrer eigentlichen Arbeit grandiose Platten produzieren, die dann hier auf den Dancefloors von großen DJs gespielt werden – und die Produzent:innen sehen nichts davon. Die Plattform Aslice, hat sich dieser Problematik angenommen, bislang allerdings kaum Sichtbarkeit bekommen.
Wer hat die monetären Voraussetzungen, überhaupt das Handwerk zu erlernen, um bis auf eine Bühne zu kommen? Diese Diskussion um Privilegien vermisse ich in der Szene.
- Nazanin Noori
Eine Plattform, bei der DJs ihre Setlisten einspeisen können, damit die Produzent:innen der gespielten Tracks einen Anteil der Gage bekommen. Das läuft aktuell noch freiwillig und eigenverantwortlich. Die Frage nach Verantwortung ist auch eine, die ich bei euch durchhöre. Einerseits die Verantwortung, die ihr als DJs und Produzent:innen für die internen Strukturen der Szene tragt. Andererseits die Verantwortung, politische Themen wie Rassismus, Klassismus oder Sexismus auf dem Dancefloor zu verhandeln. Nazanin, du hast gerade deine Privilegien als iranische Frau in Deutschland angesprochen. Inwiefern fühlst du eine Verantwortung, die Revolution im Iran in deiner Kunst zu verhandeln?
Ich bin davon überzeugt, dass alles Tun politisch ist. Ich habe da ein existenzialistisches Verständnis von Sein. Alles, was wir tun, spiegelt sich im Außen und wird entsprechend eventuell imitiert. Wir müssen deshalb aufpassen, was wir tun. Dadurch, dass ich einen konzeptuellen Ansatz in meiner Musik verfolge, kann ich konkreter in meinen politischen Aussagen werden. In meinen Hörspielen gibt es eine Sprecher:innen-Ebene, in den Installationen meist eine Textebene. Aber auch hier trage ich Verantwortung. Ich habe deshalb bei meinen Arbeiten zu dem gerade stattfindenden revolutionären Prozess im Iran nicht mit Samples gearbeitet.
Warum?
Weil ich finde, dass das eine Form der Aneignung ist. Ich empfinde es als Übergriff, schreiende Menschen, gequälte Menschen oder Sounds von Menschen, die sich in Lebensgefahr bringen, weil sie auf der Straße protestieren, eins zu eins in meine Musik zu übersetzen. Ich glaube, dass wir da als Künstler:innen eine gewisse Zurückhaltung praktizieren sollten. Ich bleibe abstrakt – und dadurch wird die politische Thematik universalisiert. Ich versuche, Emotionen in Sounds zu übersetzen. Ich habe dafür mit Instrumentalist:innen zusammengearbeitet und wir haben Sounds aus den Protesten in unsere Instrumente übersetzt. Geräusche musikalisch nachempfunden, abstrahiert und das als große emotionale Erzählung auf die Bühne gebracht. Das Feedback war total heftig. Viele Iraner:innen, die hier in der Diaspora leben, haben sich nach den Performances bedankt, weil sie im Rahmen der Konzerte einen Space gefunden haben, in dem sie ihre Trauer fühlen konnten. Gemeinsam in diesem rituellen Raum und dadurch auch irgendwie universell.
Also kann der Dancefloor nicht nur zu einem Ort des Eskapismus und des Widerstandes werden, sondern auch zu einem Ort kollektiver Heilung?
Im besten Falle ja.
Kann man Kunst und Aktivismus überhaupt voneinander trennen?
Ich weiß gar nicht, wie man es trennen kann. Es gibt dieses Sprichwort: „Wherever you go, there you are.“ Man nimmt sich ja immer selber mit. Wenn man Diskriminierung erfährt, dann ist das Politische immer da. Da kann man so unpolitisch sein, wie man möchte. Klar, Communities oder bestimmte Gruppen sind kein Monolith. Wenn es um kulturelle Aneignung geht, würde man vielleicht auch jemanden finden, der einen ähnlichen Background hat und der genau die gegenteilige Meinung hat. Das muss man aushalten.
Es gibt ein Bedürfnis zu sagen: „So macht man es richtig. So macht man es, damit man nicht gecancelt wird.“ Aber transformative Prozesse sind komplex. Und Menschen machen Fehler. Ich sehe das Thema Verantwortung auch in diesem Sinne: Wie geht man Prozesse ein, wenn Scheiße passiert ist? Wie kann ein Prozess der Entschuldigung aussehen? Wir kennen nur das bestrafende System. Wie kann es anders aussehen? Leute abzuholen, statt sie zu canceln?
Ein prominentes Beispiel für diese Art der Cancel Culture ist Nina Kraviz. Sie musste sich in der Vergangenheit schon Vorwürfen der kulturellen Aneignung stellen, als sie sich mit Cornrows zeigte. Sie wurde von der ukrainischen DJ Nastia outgecalled, weil sie sich in deren Augen auf Social Media nicht gegen den russischen Angriffskrieg positioniert habe – Kraviz ist selbst Russin. In der Folge wurde Kraviz von einigen Festival-Line-ups gekickt. Langfristige Auswirkungen auf ihre Karriere sind aber eher unwahrscheinlich. Bringt diese Art von Social-Media-Aktivismus überhaupt etwas?
Mir hilft es, mir immer wieder bewusst zu machen, dass Instagram überhaupt nicht für komplexe Diskussion designt ist. Du hast 2000 Kommentare. Die ersten fünf liest man sich durch, aber wie lange bleibt man da hängen? Das ist überhaupt nicht nachhaltig. Die Frage ist außerdem: Was erwarten wir von wem?
In einem Statement schrieb Nina Kraviz zu dem Thema: „Ich bin Musikerin, ich war nie in einer Partei. Ich engagiere mich nicht politisch und habe es auch nicht vor. Ich verstehe Politik nicht und die sozialen Folgen, die sie hat. Deshalb finde ich es falsch, mich dazu öffentlich zu äußern.“ Das kann man vermeidend finden. Aber im Grunde genommen ist es ja auch eine Haltung, oder?
Es kann tatsächlich problematisch sein, von Künstler:innen eine Positionierung einzufordern. Viele iranischstämmige Künstler:innen wurden in den Medien zur Revolution im Iran befragt und haben dadurch Sichtbarkeit bekommen. Aber ich war teilweise schockiert darüber, was sie gesagt haben. Weil es teilweise keine tiefe Auseinandersetzung mit der Intersektionalität der politischen Dimensionen gab. Wenn Leute zu Repräsentant:innen werden, weil sie musikalisch erfolgreich sind, aber sie weder das Vokabular noch ein fundiertes Wissen über die sozialen und historischen Gegebenheiten haben, ist das problematisch. Das dient weder der Debatte noch der sogenannten Community.
Ich fand es teilweise erschütternd, wenn ich gesehen habe, dass Menschen Features in großen Medien bekommen haben und dann kommuniziert haben, dass sie froh sind, dass sie „gefeatured” wurden. Das finde ich peinlich und beschämend. Es geht nicht um dich. Es geht nicht um mich. Es geht um eine politische Revolution! Dementsprechend wäre es ganz eigentlich angemessen gewesen, bescheiden zu bleiben.
Musiker:innen sind eben auch keine Politiker:innen. Vielleicht ist es manchmal eine größere Stärke, zuzugeben, dass man keine Ahnung hat. Nur weil jemand eine gewisse Identität hat, heißt das nicht, dass diese Leute automatisch Expert:innen zu einem bestimmten Thema sind. Da müssen wir Journalist:innen uns vielleicht auch mehr in die Verantwortung nehmen. Westbam, du bist von uns allen am längsten dabei und hast die Szene in all ihren Phasen begleitet. Hat sich das Versprechen von Rave als gesellschaftsverändernde Bewegung eingelöst?
Ich hatte lange ein romantisches Bild davon, dass Musik die Welt besser macht. Aber ich komme langsam eher zu dem Schluss: Wie die letzten Jahre gezeigt haben, hat Technokultur keine besseren oder klügeren Leute hervorgebracht. Verschwörungsideologien über Corona wirst du auf einer Techno-Party genauso finden wie auf Wacken. Als Teenie dachte ich, man baut sich durch Popkultur eine alternative Welt auf, in der es ganz anders zugeht. Aber Menschen verändern sich im Großen und Ganzen nicht. Es gibt immer ein paar Leute, die alternative Vögel sind. Aber wenn man eins bestimmt nicht sagen kann, ist, dass die Technokultur die Leute klüger oder weitsichtiger gemacht hätte. Es ist leider so.
Also gar nicht so ein positives Fazit zum Schluss?
Vielleicht ist es einfach ein zu hoher Anspruch an Musik, das zu leisten. Musik kann Menschen im persönlichen Leben Aha-Erlebnisse schenken oder beglückende Erlebnisse. Einen schönen Moment. Das kann wahrscheinlich jeder bestätigen. Mick Jagger hat mal gesagt: „Bei Rock 'n' Roll geht es eigentlich nur um das Gefühl der Ekstase.“ Und vielleicht ist das am Ende des Tages das, was Subkultur, Popkultur, was Rave bringen kann. Wie ich es eingangs gesagt habe: Eine kurze Auszeit von der Realität.
Was ich mir von der Szene wünschen würde, ist, dass man den Diversifizierungsbegriff auf verschiedene Bereiche anwendet, auch musikalisch. Musik wie Amapiano oder Afrobeat findet hier im Berliner Clubkontext nach meinem Empfinden viel zu wenig statt, obwohl da so viel Energie und Potenzial drin liegt. In dem Moment, in dem wir uns musikalisch diversifizieren, machen wir auch unterschiedliche Positionen sichtbar. Das müsste sich auch im Booking und der Kuration, also hinter den Kulissen, mehr widerspiegeln.
Dafür müssen wir auch mehr miteinander sprechen statt übereinander. Uns weiter educaten, woher das alles kommt. Und die Gleichzeitigkeit verschiedener Realitäten und Wahrheiten akzeptieren. Man kann gleichzeitig privilegiert sein und andere Teile der Identität können unterdrückt werden. Jede Person kann in bestimmten Kontexten problematisch sein. Das anzuerkennen ist der erste Schritt. Das kann auch helfen, wenn Dinge mal schieflaufen, besser in Verantwortungsprozesse zu gehen. Sich selbst in die Verantwortung zu nehmen. Und anzuerkennen, dass wir in einem kapitalistischen und patriarchalen System leben, das sich in unseren zwischenmenschlichen Beziehungen genauso spiegelt wie in der Clubkultur. Solange wir das nicht anerkennen, können wir uns nicht weiterbewegen.
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